Im November wird Magnus Carlsen seinen WM-Titel verteidigen, so viel steht fest. Ob der WM-Kampf in seiner Heimat in Norwegen, in Moskau, New York oder sonst wo ausgetragen wird, ist noch offen. Auch der Herausforderer fehlt noch. Deshalb startet am morgigen Donnerstag im sibirischen Chanty-Mansijsk das Kandidatenturnier. Diese acht Männer treten an:
Der Favorit: Levon Aronjan
Alter: 33
Wohnort: Berlin
Chancen auf die Qualifikation: 40 Prozent
Spätestens nach seinem Start-Ziel-Sieg vor zwei Monaten beim niederländischen Traditionsturnier in Wijk aan Zee scheint seine künstlerische Schwächephase von Mitte 2012 bis Mitte 2013 endgültig überwunden. In der Weltrangliste nimmt der Großmeister aus Berlin-Hohenschönhausen, der stets verschmitzt lächelt und nie laut spricht, seit Jahren den zweiten Platz ein. Noch immer liegt er deutlich hinter Magnus Carlsen, doch es könnte sein, dass die Zeit langsam reif ist für den armenischen Sonnyboy.
In Chanty-Mansijsk nimmt Aronjan die Rolle des Favoriten ein. Vorbei sind die Zeiten, als der junge Mann noch als „faules Genie“ verschrien war. Er gab damals Interviews mit dem Titel Gut spielen, viel Geld verdienen und ließ keine Gelegenheit aus, mit seiner Faulheit und seinen Lücken im Eröffnungswissen zu kokettieren. Bald sickerte aber durch, dass es auf der Welt so gut wie niemanden gab, der Aronjan in Sachen Eröffnungsvorbereitung Paroli bieten könnte; der Armenier war gezwungen, sein Understatement subtiler zu gestalten. Er verwendet zwar bei Pressekonferenzen noch immer hin und wieder den Begriff Idiot im Hinblick auf seine weniger gelungenen Züge, doch das glaubt ihm keiner mehr. Von ihm wird erwartet, dass er irgendwann Weltmeister werden muss. Einfach, weil er ein Genie ist. Die Frage ist, ob er in den nächsten zehn Jahren am deutlich jüngeren Carlsen vorbeikommen kann.
Denn bisher versagten dem Armenier die Nerven immer dann, wenn es um den höchsten Titel ging. 2007 besiegte er einen sehr jungen Carlsen in der Vorausscheidung knapp, bei der WM-Endrunde in Mexico City landete er aber abgeschlagen auf dem siebten von acht Plätzen. Beim nächsten Versuch 2011 schied er in einem dramatischen Stichkampfentscheid gegen den Zocker Alexander Grischtschuk aus. Auch 2013 in London konnte er Kramniks und Carlsens Formschwäche nicht nutzen.
Der Künstler: Wladimir Kramnik
Alter: 38
Wohnort: Paris
Chancen auf die Qualifikation: 25 Prozent
Ein viel zitierter Satz lautet: „Das Schachspiel ist Sport, Wissenschaft und Kunst zugleich.“ Auf keinen trifft die Dreifaltigkeit des Schachspiels so zu wie auf Wladimir Kramnik. Besonders als Schachwissenschaftler hat sich Kramnik einen Namen erarbeitet. Er stampfte ganze Eröffnungssysteme aus dem Boden, er holte 2000 in London gegen Garri Kasparow die Berliner Verteidigung aus der Vergessenheit und formte daraus die sogenannte Berliner Mauer, die inzwischen auch Carlsen gut bauen kann. Er revolutionierte viele Varianten von Grund auf und entwickelte Dutzende neue Ideen, die Eingang in die Turniersäle der Welt fanden.
Kramnik selbst betrachtet sich aber vornehmlich als Künstler. Eine Aussage, die nicht überrascht bei einem Mann, der aus einer musikbegeisterten Familie stammt, in Paris lebt und einen bohemischen Lebensstil führt. Auch sein Schachstil hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt ins Künstlerische gewandelt. Die Kritik, Kramnik spiele zu passiv, wissenschaftlich und vermeide besonders mit Schwarz eine Auseinandersetzung, schien den Maestro gewaltig an der Ehre gepackt zu haben. Inzwischen geht Kramnik verstärkt aus der Deckung und spielt mit Einsatz und kreativen Ideen, wie bei der russischen Meisterschaft 2013 gegen Shomoew.
Bei seinem Weltcup-Sieg im norwegischen Tromsø 2013 zeigte sich der Künstler zudem anfällig für abergläubisches Handeln. Er verschob sein Rückflugticket mehrfach Runde für Runde und trug tagelang die gleiche ausgewaschene Jacke.
Ohne die Teilnahme in Tromsø hätte er in Chanty-Mansijsk nicht antreten dürfen und wer Kramnik kennt, weiß, dass er seinen Traum, noch einmal Weltmeister zu werden, längst noch nicht aufgegeben hat. Er hat noch einen, vielleicht letzten realistischen Versuch. Dazu wird er auf ein paar stilistische Experimente verzichten müssen und wieder den stoischen Wissenschaftler hervorholen. In dieser Rolle hat Kramnik nämlich seine größten Erfolge errungen.
Der Unberechenbare: Wesselin Topalow
Alter: 39
Wohnort: Salamanca
Chancen auf die Qualifikation: 15 Prozent
Wo Topalows Schach gerade steht, ist schwer zu beurteilen. In seiner Glanzperiode rund um seinen Titelgewinn im argentinischen San Luis 2005 galt der Bulgare als Nachfolger des abgetretenen Dominators Kasparow, als Novator und Entwickler eines modernen, dynamischen Spielstils. Sein Markenzeichen ist das „Qualitätsopfer“, der Tausch eines Turms für einen generell etwas schwächeren Springer oder Läufer, welches er in mehr Situationen erfolgreich anwendete als jemals ein Spieler zuvor. Er hasst Remisen und zwang seine Gegner, jede Partie bis zum Ende zu spielen – eine Eigenschaft, die sonst nur Carlsen für sich beanspruchen kann. Der Effekt war der gleiche, die Gegner brachen reihenweise ein.
Bald danach folgte ein Abwärtstrend. Topalow überspannte immer häufiger sein Image, indem er noch die ausgeglichensten Stellungen nicht als Remis enden lassen wollte. Gegen Anand in Sofia kostete ihm das 2010 den erneuten WM-Titel. Nicht loslassen können, nicht bemerken, wann das Risiko den Ertrag übersteigt, ist Topalows typische Schwäche, gegen die Carlsen wiederum absolut immun ist. Dazu tauchten plötzlich in allen Partiephasen vergleichsweise einfache Aussetzer auf, die den unforced errors im Tennis entsprechen, im Schach aber sofort den Verlust der Partie bedeuten. Topalow büßte seinen Glanz vergangener Zeiten ein und wurde von der unangefochtenen Nummer eins zum „normalen“ Supergroßmeister.
Der Ex-Weltmeister Topalow hat vor einigen Jahren geheiratet und lebt im spanischen Salamanca. Abgesehen von der Grand-Prix-Serie 2013, deren Gewinn ihm die Qualifikation zum Kandidatenturnier ermöglichte, erhält der „Bad Boy“ des Spitzenschachs nur noch wenige attraktive Turniereinladungen. Zu sehr scheint noch die „Toilettenaffäre“ aus dem WM-Match 2006 im Gedächtnis zu sein. Damals bemächtigte sich Topalows Manager Danailow der Videoaufzeichnungen im Toilettenraum und warf seinem Gegner Kramnik unberechtigt vor, er würde während der Partien bei seinen häufigen WC-Gängen Computerhilfe in Anspruch nehmen.
Der Stoische: Peter Swidler
Alter: 37
Wohnort: Sankt Petersburg
Chancen auf die Qualifikation: keine
Selbst noch ohne eigene WM-Erfahrung, war „Petja“ 2000 und 2004 bei den Zweikämpfen seines Landsmanns Wladimir Kramnik dessen Chefsekundant. Wie Anand, Aronjan und Carlsen bis zur Erringung des WM-Titels ist auch der Russe Profi bei der OSG Baden-Baden. Superlative, die man vom FC Bayern kennt, reichen kaum aus, um die Dominanz zu beschreiben, die die OSG Baden-Baden im deutschen Schach hat; seit der Saison 2005/2006 sind sie durchgängig Meister bei insgesamt drei verlorenen Spielen, dazu diverse Pokalsiege. Der Erfolg ist zum großen Teil auch Swidlers Verdienst. Als Mann der ersten Stunde hat der zuverlässige Sankt Petersburger schon unzählige deutsche Großmeister und Amateure besiegt und nur eine einzige Partie verloren.
Swidlers Stärke ist, dass er unerschrocken und solide spielt und seine Form keinen großen Schwankungen unterliegt. Sogar ich hatte 2005 nicht den Hauch einer Chance, als er gegen mich gewann. Charakterlich ist Swidler sehr gefestigt. In diesem Zusammenhang sei auch an die letzte Runde des Kandidatenturniers 2013 in London erinnert: Swidler, für den es um nichts mehr ging, schlug Carlsen, der die Nerven und damit fast auch den ersten Platz verlor.
Das ewige Talent: Sergej Karjakin
Alter: 24
Wohnort: Moskau
Chancen auf die Qualifikation: 10 Prozent
Einen Rekord hat Sergej Karjakin zurzeit sicher: Er ist der jüngste Spieler, der es im Schach jemals zu großmeisterlichen Ehren gebracht hat. Im Alter von zwölf Jahren und sieben Monaten wurde ihm der höchste Titel verliehen, selbst Wunderkind Carlsen war bei diesem Ereignis gut ein halbes Jahr älter. Nicht, dass sich danach die Wege der beiden komplett getrennt hätten, doch Carlsen rannte seinem damals noch ukrainischen Konkurrenten – Karjakin nahm 2009 die russische Staatsbürgerschaft an – seitdem immer den Rang ab. Er überholte Karjakin bald in der Elo-Wertung, die bei Schachspielern die aktuelle Spielstärke bemisst, erhielt mehr Einladungen zu prestigehaften Turnieren und gewann häufiger. Man kann natürlich argumentieren, dass es der Norweger Carlsen als westlicher Exot, der nur Orangensaft trinkt und in Zeitlupe sein Partieformular ausfüllt, es bei Turnierorganisatoren und Sponsoren leichter hat, als das „nächste“ Talent aus Osteuropa. Zumal Karjakin einige Schwächen aufweist, die hinderlich für eine optimale Entwicklung der Karriere werden können.
Sein Problem ist, dass er als Allrounder auf keinem Gebiet wirklich dominiert. Während er sich in puncto Eröffnungsvorbereitung nicht mit einem Anand in Bestform messen kann, spielen etwa Aronjan oder Topalow das Mittelspiel kraftvoller und energischer. Und auch im Endspiel ist Karjakin nicht die Nummer eins; auf diesem Gebiet regiert ganz klar sein norwegischer Rivale aus den Jugendzeiten. Darüber hinaus spielt Karjakin oft besonders zu Beginn eines Turniers stark, aber das kleinste Scheitern, das kleinste Erlebnis des Misserfolgs löst in ihm oft eine Lawine an negativen Emotionen aus. Er kommt danach nur langsam wieder auf die Beine.
Der Oldie: Viswanathan Anand
Alter: 44
Wohnort: Chennai, Bad Soden
Chancen auf die Qualifikation: 10 Prozent
Es ist eine Überraschung, Anand in der Starterliste für das Kandidatenturnier zu finden. Er ist mehrfacher Weltmeister im klassischen, Blitz- und Schnellschach, lange Zeit Führender der Weltrangliste, einer der populärsten Sportler in Indien – was will man da noch erreichen? Lohnt es sich da, Gefahr zu laufen, im fernen Sibirien noch einmal ein solches Fiasko zu erleiden wie im Herbst beim WM-Kampf im seiner Heimatstadt?
Gegen Carlsen wurden im WM-Match jedenfalls konditionelle Schwächen deutlich. Der Inder, doppelt so alt wie sein Herausforderer, konnte weder im langsamen Manöverkampf noch durch direktes Anrennen in der dramatischen neunten Partie Erfolge erzielen. Carlsens Strategie, durch zahlreiche Figurenabtäusche Spannung aus den Stellungen zu nehmen, kam nicht unerwartet, frustrierte aber Anand.
Auch beim Großmeisterturnier in Zürich Anfang Februar zeigte Anand sich noch nicht von der Niederlage erholt und wirkte saft- und ideenlos. So stark es jedenfalls zu begrüßen sei, dass der Ex-Weltmeister seinen ihm sportlich zustehenden Startplatz wahrnehmen wird, so kritisch kann man sich bezüglich seiner Erfolgschancen äußern. Anand ist wahrscheinlich kein Kandidat auf den letzten Tabellenplatz, aber auf den Gesamtsieg hat er ebenfalls wenig Chancen.
Der Zocker: Schachrijar Mamedyarow
Alter: 28
Wohnort: Baku
Chancen auf die Qualifikation: keine
Nur wenige hätten dem machohaften Aserbaidschaner einen Aufstieg in die absolute Weltelite zugetraut. Zu sehr schien der junge Mann sein Talent auf seine Lieblingsdisziplinen Blitz- und Schnellschach zu verschwenden. Während der Festivals im tschechischen Pardubice standen vor wenigen Jahren die Leute in einem Nachtclub schlangenweise an, um sich gegen ihn bei einer Partie mit fünf gegen eine Minute versuchen zu dürfen, Mamedyarow besiegte sogar andere Großmeister. Im Blitzen und Rapid Chess ist er kaum zu besiegen. Nur im klassischen Schach tut sich der Aserbaidschaner noch schwer in der absoluten Upper Class. Er agiert zu unbesonnen und impulsiv. Einer langen, hartnäckigen Verteidigung zieht er oftmals das abrupte Ende vor, kapituliert in Stellungen, die man noch verteidigen kann. Dies spiegelt gut seinen Charakter als Genießer wider, der nur das macht, was ihm Spaß bereitet. Er trägt am Brett stürmische Angriffe vor, fährt teure Autos, zockt im Casino und schläft aus, wenn sich die anderen auf Partien vorbereiten. Trotz allem wurde er Zweiter bei der Grand-Prix-Serie. Die Teilnehmer in Chanty-Mansijsk werden sich aber nicht so leicht bluffen lassen und nicht bei der ersten Angriffswelle umfallen. Auf Konfrontationen, wie Mamedyarow sie liebt, werden sie nur eingehen, wenn sie wissen, dass es gut für sie ist.
Der Underdog: Dimitri Andrejkin
Alter: 24
Wohnort: Rjasan
Chancen auf die Qualifikation: keine
Wer vor einem einem Jahr auf eine Teilnahme von Dmitri Andrejkin beim Kandidatenturnier gewettet hätte, wäre jetzt reich. Andrejkin, aktuell Nummer 42 der Welt und vorher nur Experten ein Begriff, hat ein bewegtes 2013 hinter sich. Er erhielt zum ersten Mal Einladungen zu prestigehaften Turnieren wie dem Tal-Memorial in Moskau oder den Dortmunder Schachtagen und bestand beide Feuertaufen mit Bravour, wobei er zweimal den großen Wladimir Kramnik besiegte. Beim World Cup in Tromsø gelang Andrejkin dann der Coup: Er qualifizierte sich Runde für Runde über die Stichkämpfe, die in seiner Lieblingsdisziplin Schnellschach ausgetragen wurden bis ins Finale, wo er diesmal gegen Kramnik verlor. Für den stillen jungen Mann, der wie so viele andere russische Profis schon jung eine Schachspielerin geheiratet hat, wird dies aber vermutlich eine Mission Impossible.
Er verfügt über das am wenigsten ausgeprägte Eröffnungsrepertoire und seine schachliche Ausbildung besteht in großen Teilen aus durchzockten Nächten auf den Schachservern, wo er sich jahrelang Verteidigungstechniken und Zähigkeit in schlechten Stellungen antrainiert hat. Andrejkin ist sehr bestrebt, die Balance zu halten und spielt sehr oft unentschieden. Ihn zu schlagen ist zwar schwer, aber er selbst wird mit hoher Wahrscheinlichkeit keine einzige Partie in Sibirien gewinnen, zu wenig Energie und Durchschlagskraft lebt in seinen Spielzügen.
(Copyright Bilder: Anand, Aronjan, Swidler, Kramnik: Getty Images; Topalow, Karjakin: dpa)