Eigentlich ist Schach das Mobbingopfer unter den Sportarten. Der uncoole Schüler mit unmodischer Hose und Mamas geschmierten Butterbroten, der immer die Hausaufgaben hat, die dann jeder abschreiben will. Sonst will niemand etwas mit Schach zu tun haben. Um seinen Platz in der Lokalzeitung muss Schach betteln, um Sponsoren auch, die Sportförderung beim BMI wurde im vergangenen Jahr nur als ein Akt letzter Gnade weiterhin gewährt. An Schach erinnert man sich nur, wenn es sich wieder zum Gespött der Leute gemacht hat: Großmeister schläft am Brett ein, Großmeister versteckt Schachcomputer auf der Toilette, Großmeister wird wegen verbotener Notizen disqualifiziert. Sonst sitzt der Schachspieler allein in seiner Ecke und schmollt, weil seine intellektuellen Leistungen nicht ausreichend gewürdigt werden.
In diesen Tagen ist es wieder einmal so weit. Schach ist in den Medien und alle ärgern sich. Der Vorwurf: Sexismus. Der englische Großmeister Nigel Short, WM-Finalist im Jahre 1993, bekannter und kontroverser Kommentator, Kolumnist und Lebemann des Schachs, veröffentlichte in der Zeitschrift New In Chess einen Artikel, in dem er mit einer selbst für Stammtischniveau untypischen Offenheit postulierte, dass Frauen von Natur aus nicht so gut Schach spielen könnten wie Männer. Ihrer Gehirnstruktur wegen.
Zunächst passierte nichts, doch als irgendwann die englische Presse Shorts Aussagen entdeckte, ging es rund in der Szene. Der TV-Sender Sky erbat sich bei Short sogar ein Skype-Interview. In dessen Verlauf wurde die Moderatorin damit konfrontiert, dass sie als Frau zwar über eine größere Empathiefähigkeit, dafür aber über eine kleinere Gehirnmasse verfüge. Sie brach das Interview daraufhin recht abrupt ab.
Die Schachszene jammert nun herum, sich wieder einmal aus den falschen Gründen im Brennpunkt der Öffentlichkeit wiederzufinden. Doch dies hat sich die Schachcommunity, deren Mitglieder mehrheitlich voll hinter Shorts Aussagen stehen, selbst zuzuschreiben. Schachspieler neigen tatsächlich häufig dazu, die Opferrolle anzunehmen und sich dementsprechend zu verhalten: Sie suchen sich ein neues Opfer. Eines, das noch schwächer ist, als sie selbst. Und das sind im Schach die Frauen.
Die Frage, ob es im Schach so wenige Frauen gibt, weil sie so schlecht spielen, oder ob sie so schlechte Spitzenleistungen zeigen, weil es so wenige von ihnen gibt, lässt sich nicht leicht beantworten. Die von Short (als einem Anhänger der ersteren Hypothese) als absurd bezeichnete Studie von Merem Bilalic, die die Spielstärkenunterschiede zu Ungunsten der Frauen fast vollständig auf ihre geringe Partizipationsrate zurückführt, hilft da auch nicht weiter, da sie ein für einen gesunden Menschenverstand fast schon triviales Ergebnis liefert. Zudem verrät sie nichts über die Gründe, warum sich so wenige Frauen in Schachvereinen und bei Schachturnieren verirren (dazu später mehr).
Und selbst wenn sie erfolgreich Schach spielen, entwickeln sich Mädchen und junge Frauen oftmals nicht in gleichem Maße sportlich weiter, wie ihre männlichen Kollegen und ziehen sich eher aus der Schachszene zurück. In Deutschland sind etwa vier Prozent der erwachsenen Schachspieler Frauen. Ein Problem, welches sowohl Short, als auch zahlreiche Schachfunktionäre ratlos zurücklässt.
Auch wegen der wenigen Frauen interessiert sich die Öffentlichkeit nicht für Schach. Auch wegen der wenigen Frauen wird Schach weder als cool noch als glamourös oder gar sexy wahrgenommen. Auch das männliche Topmodel Magnus Carlsen kann das nicht auf lange Sicht ändern. Mit einer angemessenen Frauenquote könnte man – so denken viele – endlich der oben beschriebenen Opferrolle entkommen. Daher bemühen sich die Verantwortlichen auf breiter Ebene, Mädchen und Frauen für das königliche Spiel zu gewinnen. Bekenntnisse zur Förderung des Frauenschachs sind für einen Schachpolitiker jeder Ebene obligatorisch. Das kleine Problem dabei ist aber, dass es auf Vereins- wie auf Verbandsebene gerade (ältere) Männer sind, die im Schach etwas zu sagen haben. Davon, wie sie nach jahrhundertelanger Abstinenz endlich die Frauen für die Männerbastion Schach gewinnen sollen, haben sie keine Ahnung.
Der idealistische Ansatz wäre dabei, die Mädchen und die Frauen in Ruhe Schach spielen und lernen zu lassen. Unter Männern und unter gleichen Bedingungen wie Männer. Ohne überzogene Kritik, aber auch ohne Extrawürste. Frauen sollten als gleichwertige Mitglieder der großen Schachfamilie anerkannt werden. Es sollte nicht ihre bloße Anwesenheit, sondern ihre Leistung honoriert werden.
Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. In Wahrheit könnte die Schachwelt von diesem Ideal nicht weiter entfernt sein. Sie steckt Frauen in eigene Meisterschaften und Ligen. Sie schafft für sie ein spezielles Frauentitelsystem mit verminderten Anforderungen für den Titelerwerb, was bedeutet, dass man genauso gut auch Studienabschlüsse oder Doktortitel nur für Frauen einführen könnte. In Turnierberichten, ob in Zeitschriften oder auf Webseiten, es scheint manchmal, als ob von jeder anwesenden Teilnehmerin das Dekolleté abgebildet wird. Ausführlich kommentiert werden dagegen nur Partien von Männern. Kurzum: Es wird alles dafür getan, damit es in der Öffentlichkeit bloß nicht so rüberkommt, als müssten sich Frauen Mühe geben, um im Schach Erfolg und Bekanntheit zu erlangen.
Die paar Frauen, die dieses tatsächlich geschafft haben, helfen mit, diese Haltung zu etablieren. Immerhin profitieren sie ja auch kräftig davon. Wenn mehr Mädchen und Frauen zum Schach kämen, wären sie ja nichts Besonderes mehr. Spielerinnen profilieren sich in sozialen Netzwerken also mit lasziven Schachfotografien, unterstützen Schachprojekte mit dem Verkauf von entsprechenden Kalendern oder bringen die vermeintliche Unterlegenheit durch solche Interviews zu Ausdruck.
Die deutsche Schachjugend, bei der auch viele Frauen in verantwortlichen Positionen sind, protegiert spezielle rosafarbene Schachbretter für Mädchen und wirbt mit Kampagnen wie „Mädchen gehören hinters Brett!“. Faszinierend, wie jemand auf den Gedanken kommt, mit rosa Brettern Mädchen zum Schach anzulocken. Machen wir den Sport einfach weiblich, wenn wir ihn schon nicht attraktiv für Frauen machen können, scheint man sich da gedacht zu haben.
Schach für Frauen attraktiv zu machen, ist eine Herausforderung, an der bislang nicht nur deutsche Schachfunktionäre gescheitert sind. Die Gründe dafür sind oft banal: karge Clubräume, familienunfreundliche Uhrzeiten und eben die Ureinwohner des Schachs, introvertierte, verbissene Männer mit zweifelhafter Kleidungswahl und Hygiene, an der Außenstehende meist schwer zu leiden haben. Regelmäßig berichten Spieler davon, dass das erste Mal, dass ihre Frau oder Freundin sie zu einem Turnier begleitet hat, oft auch das letzte Mal geblieben ist. Der Grund: Bei Schachturnieren, besonders an den vorderen Brettern, stinke es einfach zu sehr.