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Macht Schach unglücklich?

 

Frage: Meine Herren, wann immer ich Schach sehe, grübeln die Spieler, raufen sich die Haare, sehen furchtbar frustriert aus. Ihr drei seid unsere Schachblogger, ihr müsst es also wissen, wenn ich frage: Macht Schach unglücklich?

Ilja Schneider: Es hat das Potenzial dazu.

Johannes Fischer: Das glaube ich auch, aber viele Dinge haben das Potenzial, unglücklich zu machen. Das Problem ist die Einstellung, die Schachspieler zum Schach haben.

Frage: Welche denn?

Johannes: Schachspieler werden unglücklich, weil sie zu große Ansprüche an das Spiel stellen. Weil sie es persönlich nehmen und nicht mehr spielen. Wenn man diese Ansprüche in jedes Spiel hineinlegt, ist das der Weg zum Unglück. Wenn man aber das Spielerische betont und so gut spielt, wie es eben geht, kann Schach sehr glücklich machen.

Dennes Abel: Das Besondere am Schach ist, dass man stundenlang mit sich selbst konfrontiert ist. Im Fußball kannst du den Frust auf den Schiedsrichter, den Gegner oder Mitspieler schieben. Im Schach bist du selbst verantwortlich. Wenn du fünf Stunden spielst und dann einen Fehler machst, waren die fünf Stunden umsonst. Das ist frustrierend.

Frage: Ist Schachspiel also eher ein Kampf gegen sich selbst?

Ilja: Schach bietet ideale Gelegenheiten dem Reiz zu erliegen, immer nach dem Besten suchen zu wollen. Weil im Schach die beste Möglichkeit theoretisch sehr leicht zu bestimmen ist. Anders als bei künstlerischen Tätigkeiten wie Malen oder Musik machen. Es gibt eben nicht das perfekte Gemälde. Im Schach fällt es deswegen vielen Leuten schwer, das Ganze spielerisch zu sehen. Weil sie mithilfe von Computern sehen können, was in jedem Augenblick der beste Zug gewesen wäre. So wird Schach zu einer Leistungsanforderung, zum Test.

Johannes: Vom Anspruch, wie Maschinen spielen zu wollen, muss man sich lösen. Hinterher bekommt man beim Schach durch Computer oder andere Spieler gerne gesagt, was man falsch oder nicht optimal gemacht hat. Das kann dazu führen, dass man sich selber einredet: Ich kann das nicht. Es hilft, wenn man da entspannter herangeht. Kinder, die Schachspielen, sind ein gutes Beispiel: Die sind happy und entspannt und freuen sich. Die spielen einfach. Wenn man denen sagt: Da hättest du besser spielen können, denn du verlierst deine Dame, wenn dein Gegner diesen oder jenen Zug macht, dann sagen sie: Hat er aber nicht!

Ilja: Diese Kinder werden später mit ziemlicher Sicherheit in die bestehende Schachcommunity integriert, in der eine andere Denkweise vorherrscht.

Frage: Woher kommt diese Gedankenwelt?

Dennes: Das hat mit Schachspielen nichts zu tun, sondern mit uns Menschen. Der Mensch hat zu hohe Anforderungen an sich, an denen er dann verzweifelt.

Ilja: Es liegt am Schach. Schach ist eine Betätigung, die viel Zeit erfordert. Menschen können sich diese Zeit oft nicht nehmen, wenn sie sozial stark eingebunden sind, also Freunde haben oder eine Familie oder einen stressigen Job. Im Umkehrschluss bedeutet das: Menschen wenden sich dann verstärkt dem Schach zu, wenn sie eine Phase sozialer Desintegration spüren. Wenn sie geschieden oder getrennt sind oder wenn sie in eine neue Stadt kommen, oder ihre Arbeit verlieren. Das bedeutet, dass viele Menschen Schach spielen, die Frustrationserlebnisse haben. Diese Erlebnisse versuchen sie aufzuwiegen, indem sie wenigstens im Schach erfolgreich sind. Und auf Misserfolge dort reagieren sie mit besonderer Frustration. Man trifft beim Schach sehr viele Frustrierte, Unzufriedene. Die es auch nicht begreifen können oder wollen, dass Erfolg und Misserfolg zu einem wesentlichen Teil von Glück abhängt. Sie suchen den Fehler immer wieder bei sich.

Frage: Starke These!

Johannes: Ganz so schlimm ist es nicht. Ich kenne einige Schachspieler, die ein stabiles soziales Umfeld, Familie und, man höre und staune, sogar Kinder haben. Sie reden sogar mit anderen Menschen und freuen sich des Lebens. Ich gebe zu, dass Schach ein Spiel ist, in das man sich versenken kann. Es lockt eher Leute an, die zu einer gewissen Introversion neigen. Wenn ich soziale Schwierigkeiten habe, finde ich Schach wahrscheinlich faszinierender als Volleyball, Handball oder Fußball.

Dennes: Iljas These hat etwas Wahres. Schachspielen dient dazu, sich selbst zu verwirklichen. Und zwar ein Bild, das man erst mal vor seinem geistigen Auge hat. Man möchte nach außen etwas darstellen. Ruhige Personen werden manchmal zu aggressiven Spielern und umgekehrt. Das trauen sie sich im echten Leben nicht. Wenn ich aber verliere, dieses andere Ich also nicht ausleben kann, frustriert mich das.

Johannes: Das gibt es natürlich. Das ist auch Reiz des Spiels. Ich glaube aber nicht, dass hinter einem, der ruhig auftritt, aber aggressiv spielt, immer jemand lauert, der versteckte Aggressionen hat. Letztendlich kommt es auf die Einstellung an. Ja, Schach lädt zu Größenwahn ein, man spielt das Spiel allein, hat kaum äußere Reize und kann sich in Welten hineinfantasieren. Aber man wacht auf, wenn man verliert. Dann kommt es darauf an, wie man mit diesen Niederlagen umgeht.

Frage: Wenn Ihr eigentlich auf der Suche nach dem perfekten Spiel seid: Welche Rolle spielt das Gewinnen an sich?

Dennes: Eine sehr große. Wenn ich nicht schon seit meiner Kindheit einigermaßen erfolgreich wäre, wäre ich nicht beim Schach geblieben. Ich war damals der Beste, warum auch immer. Hätte ich die ersten Partien meines Lebens nicht gewonnen, hätte ich mir etwas anderes gesucht.

Johannes: Ich kenne auch Schachspieler die lieber eine schöne Partie spielen und verlieren als umgekehrt. Das ist meiner Ansicht nach Quatsch. Gewinnen ist unglaublich wichtig. Lieber die schlechteste Partie aller Zeiten gewinnen, als die schönste aller Zeiten verlieren. Im Schach zu gewinnen beschert mir große Glücksgefühle.

Ilja: Absolut, bei einer schönen Gewinnpartie werden massenweise Hormone ausgeschüttet, die einen teilweise über Tage in einem Hoch halten. Es gibt nicht viel Vergleichbares im Leben.

Frage: Verliert man Partien eher, weil man selber Fehler macht oder weil der andere so gut spielt?

Ilja: Es muss immer ein Fehler passieren, damit das Gleichgewicht, das am Anfang der Partie herrscht, außer Kontrolle gerät.

Johannes: Bei Spielern meiner Spielstärke werden die Partien häufiger durch Fehler entschieden und selten durch rundum überzeugendes, geradliniges und gutes Spiel einer Seite. Das ist gefährlich, weil man beim Schach für die Niederlage immer selbst verantwortlich ist. Da kann man sich leicht hineinsteigern und sagen: „Was bin ich für ein Depp, was bin ich für ein Idiot.“ Insbesondere, wenn man leichte Fehler macht. Aber man darf diese Fehler nicht persönlich nehmen. Wenn man begreift, dass sie Teil des Spiels sind, kommt man mit Niederlagen besser klar.

Ilja: Die wenigsten schaffen es, sich von ihren Fehlern zu lösen, sie als Bestandteil des Ganzen zu sehen. Die meisten geißeln sich selbst, fressen sich nach Niederlagen innerlich auf. Ich kann Johannes nur beglückwünschen, wenn ihm gelungen ist, sich davon zu befreien. Den meisten Schachspielern, egal welcher Spielstärke, gelingt das nicht. Auch nicht den allerbesten.

Johannes: Ich bin auch schlecht gelaunt nach Niederlagen. Aber mittlerweile habe ich soziale Umgangsformen gelernt, die es mir erlauben, damit klarzukommen. Ich bin sauer, aber das ist kein Grund, nicht mehr mit meinem Gegner zu reden oder Außenstehende mit meiner schlechten Laune zu beglücken. Das habe ich früher gemacht, aber das war nicht nur unproduktiv, sondern ich hatte auch nicht den Genuss beim Schachspielen, den ich heute habe.

Frage: Ilja, bist du einfach nicht entspannt genug?

Ilja: Ich weiß nicht, ob ich 50 Elopunkte mehr oder weniger hätte, wenn ich entspannter wäre. Ich glaube, jeder handelt und verhält sich instinktiv so, wie es ihm die größten Erfolgsaussichten bietet.

Dennes: Gelassenheit ist auch nicht förderlich, um besser zu werden. Das ist nicht nur im Schach so. Es braucht Ehrgeiz, um besser zu werden.

Frage: Welche Rolle spielt die fehlende Körperlichkeit? Dass man nach einem guten Zug, und erst recht nach einer Niederlage, die Anspannung nicht rauslassen kann?

Dennes: Eine große. Man frisst einiges in sich rein, weil das Ventil fehlt. Selbst nach der Partie ist es schwer, diesen Frust loszuwerden, ohne gleich irgendwelche Straftaten zu begehen.

Frage: Warum hat sich ein expressiverer Stil nicht durchgesetzt? Warum muss sich Magnus Carlsen dafür entschuldigen, einen Kugelschreiber durch die Gegend geworfen zu haben?

Ilja: Ich versuche mir sowas auch zu gönnen, wenn der Körper es braucht. Damit bin ich zwar in der Minderheit, aber ich stehe dazu. Einmal musste nach einer Niederlage ein altes Handy herhalten. Ich bin kein Freund von künstlicher Etikette. Als Anregung: Es gibt ja bei Turnieren bereits eine Confession Box, bei der man sich während der Partie den Frust von der Seele reden kann, vielleicht sollte es auch einen Raum geben, wo man danach etwa altes Geschirr kaputthauen darf.

Johannes: Ein expressiverer Stil ist eine interessante Idee, aber man spielt ja meist nicht allein, sondern in großen Turniersälen mit vielen anderen zusammen. Das würde stören. Aber klar, Spannungen nicht abbauen zu können, ist ein Problem.

Frage: Es ist auch ungesund. Wie hoch ist die Herzinfarktrate am Brett?

Ilja: Da sind schon einige umgekommen. Aber das passiert auch bei anderen Aktivitäten.

Dennes: Die Langzeitfolgen sind schwerwiegender.

Johannes: Andererseits ist Schach gut gegen Demenz. Die Frage beim Infarktrisiko ist ja, inwieweit man sich unter Stress setzt.

Frage: Ilja, wenn Schach unglücklich macht, warum spielst du es noch?

Ilja: Es hat ein riesiges Suchtpotenzial.

Dennes: Oh ja.

Ilja: Man bekommt immer wieder Belohnungen, kleine Schüsse Adrenalin. Vermutlich vergleichbar mit dem nächsten Spritze Heroin oder der nächsten Line, um das plastischer zu beschreiben. Das steht aber in keinem Verhältnis zu den ganzen Geißelungen, den Selbstdeprimierungen, zum finanziellen und zeitlichen Aufwand. Aber so ist das bei einer Sucht. Diese kleinen Belohnungen streben wir um jeden Preis an. Es ist nicht leicht, davon loszukommen. Das hat auch gesellschaftliche Gründe. Man lernt in diesem Kreis viele Leute kennen und wenig außerhalb, das ist dann wie in einer Sekte.

Johannes: Ich genieße es, wenn ich gewinne. Ich genieße auch den Wettkampf. Wenn mir eine Partie gelingt, bei der die Figuren richtig stehen, bei der ich es schaffe, das, was ich über das Spiel weiß, aufs Brett zu bringen, dann finde ich das sehr schön. Außerdem mag ich das Ästhetische des Schachs, ich genieße es, schöne Partien zu sehen und zu verfolgen, wie die besten Spieler spielen.

Ilja: Das ist der Vorteil von jemanden, der wenig Schach spielt. Ich finde es schwer, für mich noch komplett neue Sachen zu entdecken.

Johannes: Aber Ilja, Entschuldigung, wenn das so ist, frage ich mich, warum du nur 2.500 Elopunkte hast und nicht 2.800. Da muss es doch noch etwas geben, was du entdecken kannst.

Ilja: Ich kann dir nur sagen, wie ich es selbst empfinde, das hat nichts mit meiner realen Spielstärke zu tun. Die hängt neben der Mustererkennung von ganz vielen anderen Faktoren ab. Natürlich sehe ich manchmal tolle Sachen, aber ich erlebe weniger Neues als jemand, der Schach vor drei Monaten gelernt hat und sich bei jeder Springergabel freut, wie geil das ist. Ein gewisser Abstumpfungsprozess ist da nicht zu verhindern.

Frage: Stellt euch vor eurem ersten Schachspiel vor: Würdet ihr alles wieder so machen? Würdet ihr euch wieder in die Schachwelt stürzen oder lieber nicht?

Johannes: Ja, aber ich würde viele Dinge anders machen. Zum Beispiel das praktizieren, was ich hier predige – also eine entspannte Haltung zum Schach entwickeln. Alles in allem bin ich froh, Schach entdeckt zu haben. Es hat mir frustrierende, aber auch viele schöne Momente beschert. Und ich habe eine Menge intelligenter, vielseitiger und interessanter Menschen kennengelernt.

Dennes: Ich habe ein Faible für diese Art von Spielen, bei denen man nachdenken muss. Ich würde aber nicht mehr lange dabei bleiben, weil ich merke, dass ich sehr schnell an meine Grenzen stoßen würde. Nach zwei Monaten würde ich sagen: Schönes Spiel, aber ohne mich.

Ilja: Für mich ist Schach eine unglückliche, dramatische Liebe, mit der ich niemals einen neuen Versuch anfangen würde. Auf keinen Fall! Was nichts daran ändert, dass ich solange Schach spielen werde, wie ich kann.