Wei Yi ist erst sechzehn, aber den Habitus des Schachspielers kennt er genau. In jeder Runde der gleiche blaue Trainingsanzug mit der Aufschrift „China“, der in sich gekehrte, fast abwesende Blick. Den Händedruck vor der Partie würde er wohl am liebsten ganz auslassen, seine Hand zieht er sofort zurück. Null Spannung ist darin enthalten, Yis Hand scheint so weich wie eine Frikadelle.
Auch auf dem Brett ist sein Stil noch nicht gereift, trotzdem ist der junge Mann aus dem Reich der Mitte kaum noch zu besiegen. Experten streiten nicht mehr darüber, ob Wei Yi Weltmeister werden kann, sondern nur um das Wann. Es könnte sein, dass sein erster Anlauf auf dieses Ziel unmittelbar bevorsteht.
Yi steht im Viertelfinale des World Cups in Baku, das am heutigen Mittwoch beginnt und dessen Finalisten spätestens Montagnachmittag feststehen. Die beiden dürfen dann am Kandidatenturnier teilnehmen, bei dem der Herausforderer von Magnus Carlsen ermittelt wird. Der muss im nächsten Jahr seinen Titel gegen den Sieger des Kandidatenturniers verteidigen. Der dafür bereits qualifizierte Ex-Weltmeister Vishy Anand wird dort auf sie warten. Er wird sich mit neuen Kontrahenten messen müssen, um sich für ein weiteres Match mit Carlsen zu qualifizieren. Denn fünf der acht Viertelfinalisten waren noch nie bei einem Kandidatenturnier.
Der World Cup, der seit dem 10. September läuft, ist ein brutaler Ausscheidungskampf. Für die 128 Teilnehmer geht es ab dem ersten Tag ums Überleben. Wer in einem Minimatch von zwei Partien unterliegt, fliegt sofort raus. Bei einem 1:1 werden drei weitere Umläufe mit jeweils kürzerer Bedenkzeit gespielt. Herrscht immer noch Gleichstand, entscheidet eine letzte, neunte „Armageddon-Partie“, in der Weiß eine Minute mehr hat, Schwarz aber ein Remis zum Weiterkommen reicht. In den späteren Runden entscheidet eine solche Blitzpartie um fünfstellige Beträge, für Spieler außerhalb der Top Ten ein beträchtlicher Teil eines Jahreslohns.
Entsprechend hoch sind in Aserbaidschans Hauptstadt dieses Jahr die Sicherheitsvorkehrungen. Wie am Flughafen werden die Spieler vor dem Eingang zum Turniersaal gescannt, Handys sind eh verboten, dieses Jahr aber auch Uhren und Kugelschreiber. Dazu sind Zufallskontrollen während der Runden erlaubt. Die Fide setzt bei der Betrugsbekämpfung verstärkt auf Abschreckung.
Von der Finalteilnahme ist Wei Yi nur noch zwei Matchsiege entfernt. Schwer genug wird es für ihn. Zu sagen, dass er in Baku bisher souverän agiert, wäre übertrieben. Er dürfte eigentlich gar nicht mehr dabei sein, gegen den deutlich schwächeren Ukrainer Wowk und gegen seinen Landsmann Ding Liren stand Yi mehrfach vor dem Aus. Aber er kämpfte sich immer wieder zurück, gewann reihenweise Partien auf Bestellung.
Außer dem US-Amerikaner Hikaru Nakamura, der mittlerweile als Topfavorit für das Turnier gilt, ist vielleicht keiner der Verbliebenen so erfindungs- und trickreich wie Wei Yi. Und ganz sicher verfügt niemand über dermaßen starke Nerven. Bei einem Format wie in Baku, wo nicht in erster Linie beste Vorbereitung zählt und das größte Spielverständnis, sondern auch viele andere Faktoren, kann der junge Chinese noch weit kommen.
Was Yis Konkurrenten verbindet, ist, dass sie vergleichsweise unbeschadet durch das Turnier gekommen sind. Nur zwei der anderen sieben Viertelfinalisten (Nakamura und der Russe Karjakin) gerieten in den ersten vier Runden überhaupt einmal in Rückstand, der Ukrainer Pavel Eljanow, vor dem Turnier nicht gerade als Topfavorit gehandelt, gewann seine ersten drei Matches glatt 2:0. Eine Höchststrafe für so gut wie jeden Gegner.
Auch die anderen verbliebenen Teilnehmer, der Russe Peter Swidler, der Lokalmatador Shahryar Mamedyarow, und die beiden jungen Westeuropäer Anish Giri (Holland) und Maxime Vachier-Lagrave (Frankreich) haben ein an den Verhältnissen gemessen entspanntes Turnier hinter sich. Nakamura, neben Carlsen der vielleicht weltbeste Allrounder, hat seinen Platz im Kandidatenturnier ohnehin schon auf der kürzlich beendeten Grand-Prix-Serie gesichert.
Man kann es auch so sehen: Wei Yi ist am besten eingespielt, weil am meisten stresserprobt. Favorit für das Finale ist er zwar nicht, aber seine Qualifikation wäre kein Wunder mehr.