Am 20. Juli 1924 wurde in Paris der Weltschachverband Fide (Fédération Internationale des Échecs) gegründet. Der Verband gab sich das Motto Gens una sumus, „Wir sind eine Familie“ und Familienfeiern sollte es bei Schacholympiaden geben. Die finden seit 1927 unregelmäßig, seit 1950 alle zwei Jahre statt, die nächste beginnt am 1. August im norwegischen Tromsø. Mit Querelen im Vorfeld.
Schacholympiaden sind Schachfeste. In Tromsø gehen Vierermannschaften aus 181 Ländern an den Start und Spieler jeder Spielstärke kämpfen um Medaillen, Weltranglistenpunkte und Prestige. Der Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen oder Lewon Aronjan, die armenische Nummer zwei der Welt, spielen im gleichen Turnier wie Schachliebhaber aus Papua-Neuguinea, Jamaika oder Trinidad-Tobago. Dass die Olympiaden der Frauen und der Männer seit 1972 parallel ausgetragen werden, macht die Veranstaltung noch attraktiver und hat vielleicht zu so mancher Schachheirat geführt.
Doch wer glaubt, Familienfeiern verlaufen immer harmonisch und friedlich, hat noch nicht viele erlebt. Das musste auch Kateryna Lagno, die Nummer sieben der Weltrangliste, erfahren. Im März 2014 stellte die Ukrainerin, die in Russland lebt, beim Weltschachverband den Antrag, die Förderation wechseln zu dürfen. Sie wollte nicht mehr für die Mannschaft der Ukraine spielen, mit der sie 2006 die Goldmedaille bei der Olympiade gewonnen hatte und 2013 Mannschaftsweltmeisterin geworden war, sondern für Russland. Solche Wechsel der Förderation sind in der Schachwelt nicht ungewöhnlich, doch Lagnos Antrag führte bei der Olympiade in Tromsø zu einer Krise, nicht zuletzt wegen der anhaltenden politischen Konflikte zwischen Russland und der Ukraine.
Seit der ersten offiziellen Schacholympiade 1927 in London haben politische Auseinandersetzungen die Veranstaltungen geprägt. Ein paar Beispiele: 1936 veranstaltete das nationalsozialistische Deutschland, das bei den offiziellen Olympiaden 1933 in Folkestone und 1935 in Warschau nicht dabei sein durfte, in München eine Gegenolympiade; während der Olympiade 1939 in Buenos Aires brach der Zweite Weltkrieg aus, etliche Teilnehmer blieben in Südamerika; 1966 wollte die Bundesrepublik Deutschland nicht in Kuba spielen; 1976 boykottierten der Ostblock und die arabischen Staaten die Olympiade im israelischen Haifa; 1986 wollten die Organisatoren in Dubai die Israelis nicht dabei haben, deshalb verzichteten Schweden, Dänen, Norweger und Niederländer ebenfalls auf die Teilnahme. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Doch nicht nur die Weltpolitik sorgt für Konflikte. Parallel zur Schacholympiade finden die Fide-Kongresse statt, und dort entscheiden die Delegierten über die Richtung des Verbands. Dabei gilt das Prinzip „Ein Land, eine Stimme“. So hat die Stimme des Delegierten eines Landes wie Deutschland mit seinen etwa 90.000 organisierten Schachspielern das gleiche Gewicht wie die Stimme eines Delegierten von Ländern mit weniger als 100 organisierten Schachspielern. Das ist besonders wichtig, wenn eine Präsidentenwahl ansteht. Denn die jeweiligen Kandidaten auf das Amt des Oberhaupts der Schachfamilie versuchen gern, die Delegierten der kleinen Verbände mit aller Kraft für sich zu gewinnen, zum Beispiel, indem sie ihnen großzügige Förderung des Schachs in ihren Ländern versprechen oder ihnen die Reise zur Olympiade bezahlen.
Seit 1995 regiert der Kalmücke Kirsan Iljumschinow die Geschicke der Fide. In Tromsø will er wiedergewählt werden. Sein Gegenkandidat ist Ex-Weltmeister Garry Kasparow. Eine brisante Wahl mit nicht nur schachpolitischer Bedeutung, gilt Iljumschinow doch als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, wohingegen Kasparow erklärter Putin-Gegner ist.
Das führte im Vorfeld der Olympiade bereits zu etlichen Querelen. Zwei Wochen vor Beginn der Olympiade sorgte dann eine Entscheidung des norwegischen Organisationskomitees für weitere Aufregung. Am 16. Juli erklärte das Komitee, Mannschaften, die die genaue Aufstellung ihrer Teams nicht fristgerecht gemeldet hatten, würden nicht mehr zur Olympiade zugelassen. Das betraf auch die russische Frauenmannschaft, immerhin Goldmedaillengewinnerinnen der Olympiaden 2010 und 2012.
Die Reaktion folgte: Der russische Schachverband drohte den Organisatoren mit einer Klage vor Gericht, Fide-Vizepräsident Israel Gelfer dachte laut über den Abbruch der Olympiade nach und machte zugleich Garry Kasparow für die Entscheidung des Organisationskomitees verantwortlich, allerdings ohne Gründe für diesen Vorwurf zu nennen. Auch Fide-Präsident Iljumschinow reagierte scharf und forderte die Organisatoren per Ultimatum und unter Androhung strenger Sanktionen dazu auf, verspätete Mannschaftsmeldungen zuzulassen.
Das Komitee ruderte zurück, und Russlands Frauen sind nun am 1. August wieder dabei. Unbestritten aber bleibt, dass der russische Verband die Meldung seiner Frauenmannschaft bewusst verzögert hat. Grund dafür war der Konflikt um Kateryna Lagno. Der Schachverband der Ukraine hatte gegen Lagnos Wechsel Protest eingelegt. Als die offizielle Frist für die Mannschaftsmeldung bei der Olympiade ablief, war nicht geklärt, ob Lagno in Tromsø bereits unter russischer Flagge antreten darf. Deshalb spielte der russische Verband auf Zeit und eine Formalie bekam großes Gewicht.
Doch dann ging alles plötzlich sehr schnell. Der russische Schachverband zahlte dem ukrainischen Schachverband 20.000 Euro als Kompensation für den Ausfall ihrer Spitzenspielerin, Lagno erhielt am 21. Juli die russische Staatsbürgerschaft und darf ab Anfang August in Tromsø versuchen, die russische Frauenmannschaft zur Goldmedaille zu führen.
Den meisten Spielern und Teilnehmerinnen der Olympiade sind solche Ränkespiele der Fide und der Verbände allerdings gleichgültig. Sie wollen Medaillen gewinnen, ihre Elo-Zahl verbessern, gut spielen, Freunde und Bekannte treffen. Und vor allem wollen sie die einzigartige Atmosphäre der Schacholympiade genießen.
Weiterführende Informationen:
Zur Geschichte der Fide: André Schulz, 90 Jahre Weltschachbund
Zur Geschichte und Statistik der Schacholympiaden: Olimpbase
Bücher zur Geschichte der Schacholympiaden
Raj Tischbierek, Sternstunden des Schachs: 30x Olympia. London 1927 – Manila 1992, Sportverlag Berlin 1993.
Mario Tal, Bruderküsse und Freudentränen: Eine Kulturgeschichte der Schach-Olympiaden, Köln: Papyrossa 2008.