Schach ist kein Glücksspiel. Beide Seiten spielen mit den gleichen Figuren nach den gleichen Regeln, es gibt keine Mitspieler, keine Karten, keinen Würfel, keinen Zufall. Aber trotzdem triumphiert in manchen Partien der Außenseiter, der eigentlich schlechtere Spieler. Deshalb nahmen sich die Schachspieler immer viel Zeit, um herauszufinden, wer der Beste ist. 1886, beim ersten Weltmeisterschaftskampf der Schachgeschichte, spielten Wilhelm Steinitz und Johann Hermann Zukertort 20 Partien gegeneinander. Nach fünf Partien lag Zukertort mit 4 zu 1 vorne, am Ende gewann Steinitz mit 12,5 zu 7,5.
Aber irgendwann hielt der Weltschachverband Fide lange Wettkämpfe nicht mehr für zeitgemäß und beschloss, den Schachweltmeister von 1997 bis 2004 in kurzen K.-o.-Runden zu ermitteln. 124 Spieler traten in Mini-Matches über zwei Partien gegeneinander an, wer gewann, kam eine Runde weiter, wer verlor, schied aus. Bei Gleichstand entschieden Schnell- und Blitzpartien. Das Finale ging über sechs Partien.
Vielen Spielern gefielen diese Turniere, nicht zuletzt wegen der üppigen Preisgelder. Plötzlich hatten sie die Chance, mit ein wenig Glück viel Geld zu gewinnen. Aber es gab ein Problem: Die Weltklassespieler hatten keine Lust auf diese Form der Lotterie und zu oft gewannen die Falschen. Auf einmal konnten sich Spieler mit dem Weltmeistertitel schmücken, die gegen die absolute Weltklasse keine Chance hatten. So verwandelte die Fide die Weltmeisterschaft in eine Lotterie, entwertete den Weltmeistertitel und gefährdete die lange Tradition der Schachweltmeisterschaften, in der man nur dann Weltmeister werden konnte, wenn man den amtierenden Weltmeister im Zweikampf schlug.
2006 kehrte die Fide zum Wettkampfsystem zurück. Das K.-o.-Turnier gibt es immer noch, aber heißt jetzt World Cup, und der Sieger wird nicht Weltmeister, sondern qualifiziert sich lediglich für das Kandidatenturnier. Zumindest gilt dieser Modus in einem Teil der Schachwelt. Bei der Organisation der Frauenweltmeisterschaften huldigt die Fide weiter dem Glücksprinzip.
Schafft es die Fide, ihre Zeitpläne einzuhalten – was in der Vergangenheit nicht immer der Fall war – dann treten alle zwei Jahre 64 der besten Spielerinnen der Welt im K.-o.-System gegeneinander an und ermitteln die neue Weltmeisterin. Ein Wettkampf gegen die amtierende Weltmeisterin fällt aus. Den gibt es erst ein Jahr später, wenn die Siegerin des K.-o.-Wettbewerbs ihren Titel in einem Wettkampf über zehn Partien gegen die Siegerin des Frauen Grand Prix, einer Serie von Spitzenturnieren mit den besten Spielerinnen der Welt, verteidigt.
Siegerin der drei vergangenen Grand-Prix-Wettbewerbe war die 1994 geborene Chinesin Hou Yifan, die 2010 im Alter von nur 16 Jahren durch einen Sieg bei der K.-o.-Weltmeisterschaft ihren ersten WM-Titel errang. 2011 verteidigte sie ihren Titel erfolgreich mit einem klaren 5,5 zu 2,5-Wettkampfsieg gegen die Inderin Humpy Koneru. Doch die Tüchtigen haben nicht immer Glück. Bei der nächsten K.-o.-Weltmeisterschaft 2012 unterlag die Chinesin in Runde zwei gegen Monika Socko und war ihren Titel für ein Jahr los. Weltmeisterin wurde damals die Ukrainerin Anna Uschenina, die jedoch im Wettkampf gegen Hou Yifan 2013 keine Chance hatte und mit 1,5 zu 5,5 eine klare Niederlage erlitt.
2015 verzichtete Hou Yifan auf die Teilnahme an der K.-o.-WM und verlor ihren Titel kampflos an Marija Musytschuk, die wie Uschenina aus der Ukraine stammt. Doch ein Jahr später, nach einem klaren 6 zu 3 Wettkampfsieg gegen Musytschuk war Hou Yifan wieder Weltmeisterin.
Doch jetzt hat die Chinesin keine Lust mehr auf dieses Hin und Her. Obwohl sie in der Grand-Prix-Gesamtwertung zusammen mit zwei anderen Spielerinnen in Führung liegt, zog sich Hou Yifan aus dem laufenden WM-Zyklus zurück und verlangt von der Fide eine Reform des Austragungsmodus. Vor allem möchte sie, dass die K.-o.-Turniere nicht mehr Weltmeisterschaften sind, sondern lediglich die Herausforderin der Weltmeisterin ermitteln.
Diesen Vorschlag hat Hou Yifan nach eigener Aussage schon oft gemacht, geändert hat sich aber nichts. Die Fide will den K.-o.-Wettbewerb weiter Weltmeisterschaft nennen, denn andernfalls, so die Begründung, würde man keine Sponsoren für ein solches Turnier bekommen. Doch wenn Hou Yifan, mit Abstand die klare Nummer eins der Frauenweltrangliste, auf die Teilnahme an der Frauen-Weltmeisterschaft verzichtet, hat der Titel keinen wirklichen Wert.
Für Hou Yifan könnte ein solcher Rückzug ein Segen sein. Immerhin wurde die Chinesin im September 2008 im Alter von 14 Jahren, sechs Monaten und zwei Tagen Großmeister, so viel Talent hatten nur wenige Spieler der Schachgeschichte. Im Moment steht Hou Yifan kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, doch bald kann sie sich ganz auf das Schach konzentrieren. Wenn sie nicht mehr in Frauenturnieren spielt, sondern in Spitzenturnieren gegen die besten Spieler der Welt antritt, stehen die Chancen gut, dass sie ihr Potenzial ausschöpft und mit den besten Spielern der Welt mithalten kann. Das könnte sie zum Rollenmodell vieler junger Schachspielerinnen machen.