Statistisch ist Shakespeare gut erfasst. Die Website Open Source Shakespeare zählt 835.997 Wörter in 37 Dramen, die meisten davon entfallen auf Hamlet, die wenigsten auf die Komödie der Irrungen. Auf Platz drei der Rangliste der kürzesten Shakespeare-Dramen liegt Der Sturm, 1611 uraufgeführt und das letzte Stück des Meisters. Und das einzige, in dem Schach gespielt wird.
Es erzählt die Geschichte Prosperos, der in Mailand Herzog war, bis er durch eine Intrige aus Amt und Stadt vertrieben wurde. Angezettelt hatten sie Prosperos Bruder Antonio und Alonso, König von Neapel. Nach vollbrachtem Machtwechsel schickte man Prospero und seine dreijährige Tochter Miranda aufs Meer, doch anstatt zu ertrinken, verschlug es sie auf eine kleine Insel. Dort spielt das Stück und dort strandet zwölf Jahre später König Alonso samt Sohn Ferdinand. Von nun an lenkt Prospero, der durch ein geheimnisvolles Buch über magische Kräfte verfügt, ihre Geschicke. Am Ende bekommt er sein Herzogtum zurück und versöhnt sich mit Alonso, zugleich verlieben sich Miranda und Ferdinand, spätere Heirat beschlossene Sache. Ende gut, alles gut, könnte man meinen. Doch Zweifel bleiben. Sie werden nicht zuletzt in der kurzen Schachszene im letzten Akt gesät. Unmittelbar zuvor haben sich Alonso und Prospero ausgesprochen, jetzt stoßen sie auf ihre Kinder, die miteinander Schach spielen. In der Übersetzung Christoph Martin Wielands liest sich das so:
„(Die Thüre der Celle öffnet sich, und entdekt Ferdinand und Miranda … .)
Miranda: Mein liebster Herr, ihr spielt mir einen Streich.
Ferdinand: Nein, meine Allerliebste, das wollt ich für die ganze Welt nicht thun.
Miranda: Wenn es Königreiche gälte, ihr würdet gewiß schicaniren, und ich würd‘ es euch nicht übel nehmen.“
In dieser kurzen Szene zeigt sich Shakespeares Virtuosität als Dramatiker. Wie so oft in seinen Stücken nutzt er das Motiv des Spiels im Spiel, um den Worten seiner Charaktere vielfache Bedeutung zu verleihen. Denn dieses Tändeln der jungen Liebenden kann man auch als Frage verstehen, wie die Zukunft der beiden aussehen wird, wenn sie nach ihrer Rückkehr nach Italien zum Herrscherpaar geworden sind. Bleibt Ferdinand so höflich und aufrichtig, wie er sich auf Prosperos Insel und beim Werben um Miranda gibt? Oder wird er beim Kampf um Macht und Königreiche nicht auch andere, weniger schöne Seiten von sich zeigen? Und wie wird Miranda darauf reagieren? Nimmt sie ihm das wirklich nicht übel? Und warum nicht? Aus Liebe oder nur aus Machtkalkül?
Wunderbare Doppeldeutigkeiten in wenigen Zeilen. Doch manchen Shakespeare-Lesern reicht das nicht. Sie wollen mehr. Vor allem wollen sie einen Shakespeare, der ihnen gefällt. Für Schachspieler und Schachspielerinnen heißt das: Shakespeare soll Schach gespielt haben. Je leidenschaftlicher, desto besser. So behauptet Susan Polgar, in Ungarn geborene amerikanische Großmeisterin, Weltmeisterin von 1996 bis 1999 und eine der stärksten Spielerinnen der Schachgeschichte, auf ihrem viel gelesenen Blog am 30. Mai 2013 unter der Überschrift Famous Chess Fanatics: „Bereits zu seiner Zeit galt Shakespeare als begeisterter Schachspieler.“
Nun gibt es bei Shakespeare zwar einige Redewendungen mit Schachbegriffen, aber die kurze Szene im Sturm ist die einzige in seinen Dramen, in der tatsächlich zwei Menschen am Brett sitzen. Zu wenig, um daraus den Schluss zu ziehen, Shakespeare sei „begeisterter Schachspieler“ gewesen. Zumal Schach in der damaligen Zeit eine der wenigen gesellschaftlich akzeptierten Möglichkeiten bot, bei der sich Männer und Frauen ungestört treffen konnten. Wenn Shakespeare Ferdinand und Miranda Schach spielen lässt, folgt er also wahrscheinlich weniger einer Leidenschaft, sondern vielmehr gesellschaftlichen Konventionen.
Die Spannung zwischen Schein und Sein, zwischen Trugbild und Wirklichkeit und die Vernebelung der Wahrnehmung durch Wünsche und Begierden bilden häufige Motive in Shakespeares Werk. Auch im Sturm sind sie stets präsent. Doch die Warnungen des Dramatikers vor den Gefahren der Illusionen können seine Interpreten nicht stoppen. Wer entschlossen ist, in Shakespeare das zu sehen, was er sehen möchte, lässt sich von trivialen Dingen wie Fakten und verlässlicher Erkenntnis nicht abhalten. So gibt es ein Gemälde des belgischen Malers Karel van Mander, das zwei Männer beim Schachspiel zeigt und das Polgar als Beleg für Shakespeares Schachleidenschaft anführt.
Karel van Mander: Schachspieler (Foto: Wikipedia)
Denn ein Artikel in der New York Times vom 12. März 1916 will erkannt haben, dass auf diesem Bild der Dramatiker Ben Jonson und Shakespeare abgebildet sind. Das Schach, so Jeffrey Netto 2004, „symbolisiere die bekannte professionelle Rivalität“ zwischen beiden.
Versuche, die abgebildete Stellung zu rekonstruieren, haben zu folgendem Ergebnis geführt:
Quelle: Edward Winter, Chess and Shakespeare
Wie es sich gehört, hat der Maler die beiden Schachspieler im richtigen, im dramatischen, im spannendsten Moment der Partie erwischt. Der angebliche Shakespeare spielt mit Schwarz, ist am Zug und hat soeben seinen Läufer auf b4 in die Hand genommen, um die weiße Dame auf c3 zu schlagen und Matt zu setzen.
Eine Kleinigkeit stört dieses idyllische Bild symbolischer literarischer Rivalität allerdings. Die abgebildete Stellung ist schlichtweg unmöglich: In einer regelkonform gespielten Partie kann sich der weiße Bauer in dieser Konstellation nicht nach h4 verirren. Skeptische Menschen könnten jetzt auf die Idee kommen, dass die beiden Männer auf dem Bild gar nicht Shakespeare und Ben Jonson sind. Oder dass dieses Bild zumindest keine zuverlässige Quelle darstellt, die belegt, dass Shakespeare Schachspieler war. Doch wer sich wünscht, dass der große Dramatiker Schach spielen konnte, lässt sich von solchen Dingen nicht beirren.
Die geheimnisumwitterte Figur Shakespeares, die Vielschichtigkeit seiner Stücke und die Faszination des Schachs laden zu solchen Interpretationen ein. Realistisch sind sie nicht, sondern schöne Illusionen. „Der Stoff, aus dem die Träume sind“, wie Prospero sagt.