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Zum Schummeln braucht der Denker keine Pillen

 

Schneller laufen, höher springen, weiter werfen – viele Sportler setzen bei der Sucht nach Erfolgen auf Doping. Ohne Rücksicht auf Fairness, Gesundheit und Imageschäden ihres Sports. Doch kann man mit Spritzen und Pillen auch schlauer denken und klüger Schach spielen?

Vielleicht hätte die Nummer zehn, zwanzig oder fünfzig der Weltrangliste im Schach mit Doping tatsächlich gute Chancen, Weltmeister Magnus Carlsen den Titel abzunehmen. Schach erfordert hohe Konzentration und große geistige Anstrengung. Die Partien dauern oft vier bis fünf, manchmal sogar sieben oder acht Stunden. Da machen auch die besten Spieler Fehler, weil sie zu nervös sind oder die Konzentration nachlässt. Studenten greifen bei Prüfungen und Klausuren immer öfter zu Medikamenten wie Ritalin oder Modafinil, um länger wach und konzentriert zu bleiben.

Doch im Schach funktioniert das nicht. Zu Beginn der Partie weiß niemand, ob man zwei, drei oder acht Stunden spielen wird. Oder ob der entscheidende Moment nach zehn, vierzig oder siebzig Zügen kommt. Wer nach vier Stunden müde wird und zu Aufputschmitteln greift, dem fehlt vielleicht die Geduld im Endspiel. Wer Beruhigungstabletten schluckt, um die Aufregung zu bekämpfen, denkt vielleicht zu lange nach und hat am Ende keine Zeit mehr.

Kein Wunder, dass bislang noch kein Spieler beim Doping ertappt wurde. Kontrollen gibt es trotzdem. In Deutschland seit 2009, denn ein Sport ohne Dopingkontrollen gilt nicht als Sport und bekommt vom Innenministerium kein Geld. Aber die Dopingfahnder kontrollieren in Deutschland nur vier Turniere: die Deutschen Meisterschaften der Männer und Frauen sowie die U18-Jugendmeisterschaften der Jungen und Mädchen. Wer bei diesen Turnieren per Los zum Dopingtest zitiert wird, muss unter „Sichtkontrolle“ eines Arztes eine Urinprobe abgeben. Wer falsche Substanzen im Blut hat, muss mit Strafen rechnen. Viagra und Alkohol sind erlaubt, Cannabis nicht.

International gibt es Dopingkontrollen schon länger. Der Weltschachverband Fide hat den Ehrgeiz, Schach olympisch zu machen, und das geht nur mit Dopingkontrollen. So gibt es in der Schachwelt mehr Aufregung über die Tests als Dopingfälle. Als die Fide bei der Schacholympiade 2002 Dopingkontrollen einführte, erklärten die deutschen Spieler Doktor Robert Hübner und Artur Jussupow aus Protest ihren Rückzug aus der Nationalmannschaft. Beide gehörten früher zur Weltspitze und hatten sich mehrmals für die Kandidatenwettkämpfe um die Weltmeisterschaft qualifiziert. In seiner Begründung bezeichnete Hübner die Dopingkontrollen „als Entwürdigung, Entmündigung und Entrechtung des Individuums“ und sagte, die „Maßnahme“ stehe „nicht auf dem Boden des Menschenrechts“.

Zum Schummeln braucht der Denker kein Doping
Wassili Iwantschuk // © Alina l’Ami

Aufregung um das Thema Doping gab es auch bei der Schacholympiade in Dresden 2008. Der Ukrainer Wassili Iwantschuk, seit Jahren einer der besten Spieler der Welt, war zur Dopingprobe gelost worden. Doch nach seiner Niederlage in der Schlussrunde hatte Iwantschuk, der in der Schachszene für sein exzentrisches Auftreten bekannt ist, andere Sorgen. Er ignorierte den Funktionär, der ihn zur Urinprobe bat, und stürmte aus dem Saal. Iwantschuk riskierte eine zweijährige Sperre, außerdem hätten sämtliche Wettkämpfe der Ukrainer bei der Olympiade als verloren gewertet werden können. Doch wegen eines Formfehlers verzichtete die Fide auf die Strafen. Zum Glück, so richtete die sinnlose Dopingpolitik der Fide keinen Schaden an.

Doppelt absurd wirken Dopingkontrollen im Schach deshalb, weil Betrüger Möglichkeiten haben, die einfacher und gesünder sind. Früher machten sich Schachspieler Spickzettel mit ihren Eröffnungen oder ließen sich von stärkeren Spielern Züge vorsagen, heute nutzen die Schummelkönige den Computer. Doch so engagiert die Fide beim unnötigen Kampf gegen das in anderen Sportarten wirkungsvolle Doping auftritt, so wenig fällt ihr beim Kampf gegen den Computerbetrug ein. Doch genau das ist eines der größten Probleme des modernen Schachs.

Unabhängig davon bleibt die Frage, wie man als Schachspieler seine Leistung ohne Medikamente und Computer steigern kann. Moderne Spitzenspieler wie Magnus Carlsen greifen auf alte Methoden zurück: Schlaf, Ernährung, Bewegung. Nicht neu, nicht aufregend, aber effektiv. Und ehrlich.