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Lyrik unter Pferdepostern

 

Vertonungen von Lyrik gibt es schon lange. Viele Gedichte Heinrich Heines wurden von Robert Schumann musikalisch unterlegt. Der Sänger Pilo tat ähnliches mit Rilke oder Goethe. Nun hat sich das sogenannte World Quintet der Poesie Selma Meerbaum-Eisingers angenommen – eine jüdische Lyrikerin, die im Alter von 18 von den Nazis ermordet wurde und lediglich 57 Gedichte schrieb. Sie wurden erst 1980 entdeckt und veröffentlicht. Zwölf von ihnen finden sich auf der CD Selma. In Sehnsucht eingehüllt und sind Teil eines bundesweiten Schulprojekts, das für Toleranz und Verantwortung wirbt. So weit, so schön.

Dann fällt der Blick auf die Besetzung der Musiker, die die Gedichte singen. Da kann einem schon anders werden: Hartmut Engler! Yvonne Catterfeld!! Xavier Naidoo!!! Und, Teufel auch, Sarah Connor!!!! Jetzt könnte manch einer sagen: Ist ja für Schüler, da muss man sich an der Zielgruppe orientieren. Ach wirklich? Bleiben wir bei Sarah Connor. Eine Sängerin, deren lyrische Qualität sich bislang in Zeilen zeigte wie Kiss me on the left, kiss me on the right / With you’re uh uh, boy, you make me happy all night / Boom, boom, boom my heart’s going / All I wanna do is stay in bed with you . Jetzt interpretiert sie Eisingers Das Glück, und deren zarte Natur- und Sehnsuchtslyrik gerät zu einem derart diddlmausigen Stück, zu dem die Zielgruppe fürderhin im Jugendzimmer unter Pferdepostern kuscheln und knutschen kann.

Zweifellos sind die Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger sentimental, zuweilen kitschig. Kein Problem, völlig in Ordnung. Sie sprechen von Liebe und unerfüllten Erwartungen, Ahnungen und Verlangen einer 18-Jährigen. Sie war eine Dichterin, von der ihre Entdeckerin Hilde Domin sagte: „Ihre Begabung steht sicher auf einer Stufe mit dem jungen Hofmannsthal.“ Nun werden größtenteils Musiker auf die Lyrik losgelassen, die sich irgendwo zwischen Tanzschul-Disco und Engtanz-Abend bewegen und machen daraus, was sie am besten können: Schwulst. In einer manchmal hitparadentauglichen, manchmal biederen Wurschtigkeit. Wenn Reinhard Mey Abend I singt, klingt das immer noch wie Über den Wolken; knödelt Xavier Naidoo Spätnachmittag könnte es auch von einem Walt Disney-Soundtrack sein. Und Hartmut Engler stimmt die gleichen Töne an, mit denen er und seine Gruppe PUR schon weiß der Himmel wie viele Menschen ins Nirwana georgelt haben. Da nützt das Baseler Sinfonieorchester wenig. Nicht viele Interpretationen sind gelungen. Rapper Thomas D, Volkan Baydar und die Silbermond-Sängerin Stefanie Kloß legen schöne Stücke hin.

Karl Kraus schrieb einmal von Heines Gedichten stellvertretend für jedwede Form der Lyrik: Die Sangbarkeit der Verse sei der größte Fehler. Vielleicht liegt es gar nicht an der Sangbarkeit, sondern an den Leuten, die die Verse singen. Die Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers lohnen sich wirklich. Doch nicht in dieser Form.