Frauen dürfen seit neuestem nicht nur nicht keine Lust haben, sie sollen – wenn die folgende Meldung stimmt – auch möglichst schnell zum Orgasmus kommen. Weil Männer nämlich oft zu schnell kommen. Und weil Sex nach Ansicht gewisser Forscher offensichtlich etwas ist, das man lieber schnell hinter sich bringt. Oder weil irgendwelche Idioten immer noch glauben, sie müssten die Legende vom möglichst gleichzeitigen Höhepunkt als Erfüllung wahrer Liebe nähren?
Diese Meldung hier fügt sich jedenfalls in ein Puzzle ein, an dem leider auch (hiesige) seriöse Medien mitbasteln.
„Im normalen Geschlechtsakt gebe es eine Lücke von zwölf Minuten, sagen Experten. Der Mann erreiche einen Höhepunkt nach zwei Minuten, während eine Frau 14 Minuten dafür bräuchte. Ein Forschungsprojekt bemüht sich nun, ein Medikament zu finden, das den weiblichen Orgasmus beschleunigt. (…) Am Rande einer internationalen Konferenz über Sexualforschung berichtete Dr. T Kamaraj, Organisator der Konferenz, dass Forscher in den USA an einer psychoaktiven Substanz arbeiten würden, die im Gehirn wirken und auf diese Weise Frauen einen schnelleren Höhepunkt ermöglichen würde.“
Gleichzeitig berichtet Dr. Petra Boynton, kritische Sexexpertin aus Großbritannien, dass das Pharmaunternehmen Boehringer-Ingelheim den Weg für sein Medikament Flibanserin ein Stückchen weiter medial ebnet.
Dazu muss (noch einmal) erklärt werden, dass es zur Taktik von Pharmaunternehmen gehört, schon vor Zulassung neuer Medikamente den Markt zu bereiten. Sei es, indem eine Krankheit erst einmal erfunden bekannt gemacht wird, sei es, indem Ärzte mittels Informationsveranstaltungen auf die Krankheit (und deren bevorstehende Behandlungsmöglichkeit) aufmerksam gemacht werden.
So wird also bereits seit Jahren Frauen, die nicht andauernd geil sind, nahegelegt, an HSDD (Hyposexual Desire Disorder) zu leiden, an mangelnder Lust auf Sex, sozusagen. Gern werden auch Umfragen veröffentlicht, die untermauern sollen, dass viele Frauen unter dieser Lustlosigkeit tatsächlich leiden, nein, LEIDEN. Darauf bezieht sich Petra Boynton in ihrer aktuellen Zusammenfassung zu Flibanserin. Das Pharmaunternehmen hat nämlich vergangene Woche eine neue Umfrage veröffentlicht, der zufolge 11,6 % der 65.129 befragten Frauen zwischen 18 und 88 Jahren aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien angaben, mangelndes sexuelles Verlangen an sich festgestellt zu haben und darunter zu leiden („reported … distress“).
Das klingt nicht nach viel, aber es wird in einer dazugehörigen Presseaussendung auch eine Ärztin zitiert, der zufolge Frauen, die an HSDD leiden, auch Schuldgefühle hätten und die Distanz beklagten, die sie zwischen ihrem Partner und sich spürten. Dann freut sie sich noch schnell über die zunehmende Forschung und begrüßt die erhöhte Aufmerksamkeit dieses „missachteten, aber Leidensdruck verursachenden“ Zustandes. (Ich habe die Pressemitteilung leider nicht auf Deutsch gefunden.)
Das ist nichts Neues. Wie sehr und wie viele Frauen darunter leiden, zu wenig geil zu sein, lesen wir in schöner Regelmäßigkeit. In ebenso schöner Regelmäßigkeit lesen wir auch davon, dass nun aber endlich endlich ein Mittel gefunden wurde, diesem Missstand abzuhelfen. Wir erinnern uns an Intrinsa, ein Testosteronpflaster, das für postmenopausale Frauen entwickelt wurde, aber ganz subkutan auch allen anderen mehr Spaß am Sex verspricht. Oder sehen Sie sich einfach auf der dazugehörigen Webseite an, wie jung man heutzutage bereits in der Menopause sein kann.
In den USA ist Intrinsa übrigens noch immer nicht zugelassen.
PT-141, das berühmte Nasenspray, das 2007 als das „weibliche Viagra“, jetzt aber wirklich!, bezeichnet worden war, wurde ebenfalls nie zugelassen.
Wer jetzt also Flibanserin als die neue Wunderdroge bejubelt, sollte stattdessen vielleicht ein paar gedächtnisstützende Mittel einwerfen. Es befindet sich noch immer in dem für Pharmazeutika langwierigen Zulassungsprozess, und die Frage ist, ob es überhaupt Chancen hat, zugelassen zu werden. Die bisherigen Studien ergeben, berichtet Neuroskeptic, dass die behandelten Frauen lediglich 0,7 sexuell befriedigende Geschlechtsakte mehr hatten als „normal“.
Pro Monat.
Dafür muss das Medikament jedoch, wie ein Antidepressivum (was es von seinem Aufbau her auch ist), täglich eingenommen werden. Es greift also, wie ein Antidepressivum, in die Gehirnchemie ein. Das Überraschende: Neuroskeptic berichtet, dass es als Antidepressivum in den klinischen Tests nicht besser als ein Placebo gewirkt hat. Aber es ist auch in der Pharmabranche nicht unüblich, einen Fehlschläger, in den man vermutlich schon viel Geld gesteckt hat, für ein paar andere (angebliche) Diagnosen zu testen.
Natürlich ist es verlockend für alle Beteiligten. Die Pharmaindustrie kann viagramäßig Millionen machen, die Männer müssen kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn sie öfter wollen, als ihre Frauen – und vice versa – und vor allem muss sich ein Paar nicht mit so mühsamen Beziehungsdiskussionen aufhalten.
An deren Ende übrigens auch einfach rauskommen könnte, dass eigentlich beide keine Lust haben und ganz zufrieden mit dem Status Quo sind. Vielleicht glaubt ja nur der eine, dass der andere …
Es würde mich, um auf die Anfangsmeldung zurückzukommen, übrigens nicht wundern, wenn wir in den kommenden Monaten und Jahren auch verstärkt Leidensberichte von Männern, die zu schnell kommen, lesen. Kleine Anzeichen gibt es bereits, die versuchen, Ejaculatio praecox zum nächsten großen Problem für Männer zu machen. Wobei die Angaben, ab wann „zu früh“ ist, differieren.
Und wie es der Zufall so will, wird auch gerade an Medikamenten dagegen geforscht!
Das Puzzle setzt sich also zusammen aus der Betonung, dass mangelndes sexuelles Verlangen bei Frauen unnormal ist. Und dass sie darunter leiden. (Boehringer-Ingelheim betont, in der aktuellen Befragung explizit nach nachlassendem sexuellen Verlangen gefragt zu haben, das von den Befragten nicht mit Problemen in der Partnerschaft oder körperlichen Verletzungen begründet wurde.) Und dass Männer aber auch – trotz Viagra – noch immer nicht perfekt sind, sondern derzeit gern mal zu früh kommen. (In ein paar Jahren werden sie dann vermutlich zu lange brauchen.)
Und jetzt erklär mir einer, wie Herr und Frau Mangelhaft auf diese Weise ein entspanntes Sexleben haben sollen.