Lieber Edgar O.,
Sie haben sich am Samstagmorgen um 2:51 Uhr die Mühe gemacht, mir in Bezug auf einen Artikel eine private E-Mail zu schicken. Im ersten Satz ihrer Nachricht bezeugen Sie, ich sei zu emotional für einen Journalisten. Sie fordern mich auf, mein Feindbild der Russen zu überdenken. Im dritten Satz behaupten Sie, Wladimir Putin sei zu recht der mächtigste Mann der Welt.
Ich habe mich über Ihre Zeilen gefreut. Anders als viele andere mir unbekannte Menschen, die mich am Wochenende kontaktierten, halten Sie mich nicht für einen „Propagandisten“, „Russenhasser“ oder „Russlandhetzer“, zumindest schreiben sie es nicht wortwörtlich und raten mir nicht, „endlich eine russische Frau in Sotschi zu finden“.
Wissen Sie, als ich am Samstagabend in den Bergen des Kaukasus wanderte, über ihre Worte grübelte, kam ich vom rechten Weg ab. Ich sah ein wolfsähnliches Tier, rannte einige Meter, erreichte einen unbeleuchteten Tunnel und blieb im Schnee stecken. Der Kalte Krieg hat nie ein Ende gefunden, dachte ich. Deshalb halten Sie mich nach einem kritischen Kommentar über Putin für einen Freund Amerikas. Das erklärt, warum OlympicMartin mich auf Twitter beschimpft, Alexje und Dimitru mir auf Facebook drohen. Darum wissen wir vom Fuck-the-EU-Telefonat.
Oben im Kaukasus hätte es passieren können, dass ich nie wieder nach Hause gefunden hätte oder Schlimmeres, eine Falle. Womöglich wäre ich noch in einem der schrecklichen Journalisten-Hotels gelandet, in denen das WLAN nicht geht. Dann kamen zwei kräftige Russen auf mich zu.
Vassili und Andre, beide in der Bergregion rund um Sotschi aufgewachsen, Anfang 20, Angestellte des IOC. Sie zeigten mir den richtigen Pfad, nahmen mich in ihre Mitte und redeten mit mir in drei Sprachen. Kein Wolf kreuzte unseren Weg. Am Ende, nachdem wir noch aufs Finale der buckelpistenabfahrenden Frauen geschaut hatten, umarmten wir uns bei der Verabschiedung.
Schon mein Opa, der in der DDR als bester Traktorist der Landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft seines Landkreises mehrmals Russland bereisen durfte, hatte mir als Kind erzählt, wie liebenswert, spontan und gesellig viele Russen sind. Und nun, lieber Edgar O., lieber OlympicMartin, kann ich es Ihnen von Herzen auch aus eigener Erfahrung schreiben: Ich hasse gar keine Russen.
Wer die russische Regierung, also Wladimir Putin, kritisiert, meint damit nicht die Menschen, die in Russland leben. Ich dachte, das wäre klar. Übrigens interviewen wir jeden Tag einen von ihnen, Stimmen Russlands heißt die Serie, egal ob Putin-Kritiker (die größten Putin-Kritiker sind übrigens Russen) oder Putin-Anhänger. Seien Sie sicher, wir suchen in der Redaktion ein ausgewogenes Bild.
Und erlauben Sie mir noch einen kurzen Hinweis. Ich glaube, in der Olympia-Kritik und dem Stöhnen einiger Journalisten über ihre Hotels ist noch etwas durcheinandergeraten. Wenn in einem Hotelzimmer zwei Toiletten nebeneinander stehen oder das Laminat nicht gerade verlegt ist, hat das nichts mit den Menschenrechtsverletzungen der russischen Regierung zu tun. Auch über die Verantwortung des Internationalen Olympischen Komitees, das die Winterspiele an einen subtropischen Badeort vergeben hat, sagt ein falsch angebauter Lichtschalter wenig aus.
Wer das miteinander vermischt, überhöht die Lichtschalter und umgeht die Probleme in Russland: eingeschränkte Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, Korruption, selektive Justiz, keine freien Wahlen.
Mit herzlichen Grüßen aus Sotschi, wo die Sonne scheint, die Luft voller Liebe ist und das Meer einen mit seinem Blau verzaubert,
Steffen Dobbert