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Russische Männer verlieren nicht, nie!

 

Als ich am Samstagvormittag kurz vor 11 Uhr einkaufen will, wird plötzlich klar, wie wenig ich mich bisher integriert habe in meiner Nachbarschaft, hier in Adler. Brot, Eier, Saft, Tomaten, Lachs, Butter, Hack, Käse, Kartoffeln, Kekse und eine Packung mit vier Büchsen Bier liegen in meinem Korb. An der Kasse hilft die Kassiererin, die zusammengeklebte Öffnung der Plastiktüte zu finden. Ich packe ein, suche meine Rubel. Dann verweigert sie mir das Bier.

Ich gehe nicht ohne mein Bier, sage ich. Sie sagt auch etwas und gibt das Viererpack nicht aus der Hand. Wir streiten uns, mein Russisch ist so gut wie ihr Englisch. Keiner der anderen Leute im Laden hilft zu übersetzen. Ich fühle mich diskriminiert. So geht das fünf Minuten, mindestens. Als die Kassiererin auf ihre Uhr schaut und endlich mein Bier über den Scanner schiebt, ohne Worte, lächeln wir beide nicht mehr. Ich zahle, ohne Worte, und gehe.nachbarn

Am Nachmittag donnert es gegen meine Tür. Ich öffne. Ein Mann mit nacktem Oberkörper, schwarzer Trainingshose und goldener Kette ergreift meine Schulter. Er schüttelt mich und brüllt „Ruuussssssiaa“. Ein paar Kilometer weiter im Bolshoy Ice Dome spielt gerade in der Vorrundenpartie das russische Eishockeyteam gegen die USA. Die Russen führen 1:0.

Der Mann wankt in meine Wohnung, schnappt sich meine Kamera und zieht mich über den Hausflur hinter sich her. „Keine Angst“, lallt er noch in akzentfreiem Englisch. Barfuß laufe ich bis in seine Wohnung, wo mir sein Freund zur Begrüßung die Hand entgegenstreckt.

Beide heißen Alexej, beide sind meine Nachbarn. Auf dem großen Flachbildfernseher läuft das Eishockeymatch. Auf dem Hocker davor steht eine Playstation 3, eine Packung Tomatensaft und eine fast leere Wodkaflasche. Die beiden lümmeln sich im Ehebett, rote Rosen auf dem Bettbezug. Die Tür zum Balkon steht offen. Draußen flattert eine Russlandfahne. Der eine Alexej ist dunkelhaarig und nur halb so betrunken, wie der andere, der mir jetzt eine Kaffeetasse, halbvoll mit Wodka, reicht. Er sagt, ich solle trinken.

Der dunkelhaarige Alexej, der blonde ganz betrunkene Alexej und ich freuen uns, da wir zusammen das Spiel gucken, auf gute Nachbarschaft. Wenn ich Journalist sei, sei es Zeit, das wahre Russland kennenzulernen, sagen sie. Ich solle Bilder machen. Da schlittert der Puck über die Linie. 1:1. Der blonde Alexej haut mit der flachen Hand aufs Bett. Sein Becher Tomatensaft kippt um. Er schreit: „Fucking USA“.

Der dunkelhaarige Alexej nimmt schnell meine Hand und zieht mich aus dem Zimmer über den Flur in seine Wohnung. Seine Frau Irina lacht. Der ganz betrunkene Alexej kommt hinterher. Er hat sich einen roten Bademantel umgeworfen. Er will mehr Wodka trinken, auch hier. Irina lacht nicht mehr. Sie kocht Kaffee für uns drei.

Da sitzen wir nun. Der dunkelhaarige Alexej zeigt auf die gemauerte Wand und das verlegte Laminat, beides sehr akkurat verarbeitet. Alles ist neu und chic. Er sei LKW-Fahrer, alles sei sein Werk. Ich nicke. Der ganz betrunkene Alexej arbeitet als Arzt mit Aidskranken, verdient unglaublich viel Geld, hat drei Mal die USA bereist und wenn die Russen nicht Hitler gestürzt hätten, säßen wir jetzt nicht hier, sagt er. Wir lachen viel. Nur den Kaffee verschütten wir versehentlich ein wenig.

Zurück in der Wohnung des blonden Alexej. 2:2 steht auf der Anzeigentafel im Fernseher. Ein russischer Spieler drischt den Puck in die obere Torecke. Der blonde Alexej reißt sich den Bademantel wieder vom Leib, springt aufs Bett, Fäuste in den Himmel. Doch der amerikanische Schiedsrichter erkennt das Tor nicht an. Alexej brüllt, so laut dass es die Menschen auf dem Balkon im Haus gegenüber hören. Er haut immer wieder mit der Faust aufs Bett, steht auf, geht ins Badezimmer und kommt mit einem schwarzen Gewehr mit Fadenkreuzzielvorrichtung zurück.

Er will laden, der dunkelhaarige Alexej hält das für keine gute Idee und nimmt ihn die Waffe aus der Hand. Sie kämpfen. Nach einer Weile hält der blonde Alexej sein Gewehr wieder in der Hand. Der Dunkelhaarige schüttelt den Kopf und geht zurück zu seiner Frau. Ich sage, schau auf den Fernseher, Penaltyschießen.

Als der blonde Alexej mir das Gewehr zeigt und einmal ohne Munition durchs Zimmer schießt, muss ich an einen Text über russische Männer denken. Den schrieb mal eine Kollegin, die in einen Russen verliebt ist. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Das Penaltyschießen ist spannender als alles andere in Sotschi.

„Russen verlieren nicht, nie!“, erzählt mir der blonde Alexej. Dann gewinnen die USA. Er weint. Ich laufe und hole aus meinem Kühlschrank das Viererpack Bier. Wir trinken. Er erklärt mir, die Playstation 3 und den Applecomputer habe er sich erst vor einigen Wochen gekauft, nachdem seine Frau ihn mit seinem eineinhalb Jahre alten Sohn verlassen habe. In Moskau gefalle es ihr besser, sagt er. 30.000 Rubel zahlt er nun jeden Monat. Er schimpft über seine Frau. An der Wand hängen noch Fotos von den dreien. Er schimpft auch über seinen Job. Ständig würden die Leute ihm neben seinem Gehalt Schwarzgeld anbieten.

So reden wir eine ganze Weile. Bis das Bier alle ist. Ich sage, mit Hitler habe ich nichts zu tun, und inzwischen sei ich mir sicher, dass die Russen das olympische Eishockeyturnier noch gewinnen werden. Alexej sagt, das wusste er schon lange, beides. Außerdem solle ich nicht über die Verkäuferinnen unten im Laden schimpfen. Die dürfen vor 11 Uhr keinen Alkohol verkaufen.