Wer in den Tagen vor der Eröffnung mit offenen Augen durch London geht, sieht ihn manchmal doch aufblitzen, diesen vielzitierten olympischen Geist. Wenn im olympischen Dorf vier Niederländer mit freiem Oberkörper auf ihrem Balkon den Kubanerinnen hinterherpfeifen, die vor ihnen flanieren.
Wenn die Hockeyspielerin Natascha Keller, deren Großvater, Vater und Brüder auch schon bei Olympia dabei waren, bei ihren fünften Spielen die Fahne des deutschen Teams tragen darf, ganz aufgeregt ist und hofft, dass ihre Kollegen sie ihr auch mal abnehmen werden, weil die Fahne doch sonst die ganzen Stunden lang zu schwer werden könnte, wie sie sagt.
Wenn jeder zweite Londoner ein Shirt in Olympiafarben zu tragen scheint und gut gelaunt Auskunft über den schnellsten Weg zur Fechthalle gibt (und die andere Hälfte zumindest milde lächelt anstatt die Nase zu rümpfen, wenn Verirrte ihnen in der U-Bahn vor die Füße laufen).
Und wenn man im Medienzentrum dem Delegationsleiter von Sao Tomé und Principe mit Händen und Füßen erklären darf, dass die Toiletten am Ende des Ganges, dann links, sind.
Dann ist das alles Olympia, etwas Besonderes, vielleicht eine der letzten Utopien, die wir haben. Die ganze Erde in einer Nussschale, ein Modell für eine bessere Welt – in diesen Zeiten gefragter denn je.
Deshalb werden am Freitagabend etwa eine Milliarde TV-Zuschauer dabei sein, wenn bei der Eröffnungsfeier das Olympische Feuer entzündet wird, und das ist noch vorsichtig geschätzt. Einige reden von bis zu vier Milliarden. Weil laut Weltbevölkerungsuhr derzeit etwa sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben, schaut also nicht nur sprichwörtlich die halbe Welt zu. Warum eigentlich?
Es ist wohl der Mythos Olympia. Ein ziemlich diffuses Ding, das diese Sportwochen zu etwas Besonderem macht. Nicht zu vergleichen mit Wimbledon, dem Großen Preis von Monaco, der Tour de France, dem Super Bowl, nicht einmal mit den großen Fußballturnieren. Weil es bei Olympia um mehr zu gehen scheint: Um Internationalität, Fairplay, Freiheit. Die Sachen eben, die sich der Baron Pierre de Coubertin damals hatte einfallen lassen.
Doch gibt es diesen Mythos außerhalb der Plakate, Faltblätter und Pressemitteilungen der Veranstalter tatsächlich noch irgendwo? Hat das Internationale Olympische Komitee diesen Geist nicht schon vor etlichen Jahren an Burgerberater und Softdrinkabfüller verkauft?
Wir werden uns in den kommenden Wochen auf die Suche nach der olympischen Idee machen. Unter anderem. Wir werden täglich einen Menschen in unserer Serie „Mein Olympia“ über seine persönlichen Spiele erzählen lassen. Wir werden an dieser Stelle regelmäßig bloggen, Wichtiges und Unterhaltsames. Mein Kollege Christof Siemes und ich werden regelmäßig die spannendsten und interessantesten olympischen Geschichten aus London aufschreiben.
Natürlich wollen und werden wir unsere Notizbücher nicht vor den Übeln verschließen, die diesem Event schon zugesetzt haben. Längst wurden die Spiele von internationalen Großkonzernen vereinnahmt, dessen Produkte bei stetem Konsum ziemlich unolympische Körperwölbungen verursachen.
In London wollte man es nach den Dicke-Hose-Spielen von Peking etwas bescheidener angehen lassen. Aber auch hier wird Olympia den Steuerzahler um etliche Pfund erleichtern. 2,5 Milliarden sollten es werden, offiziell 9,3 Milliarden sind es geworden.
Mehr als 18.000 Soldaten werden für die Sicherheit der Spiele sorgen, weil sich eine private Firma übernommen hat. So viele Uniformen auf einen Fleck sieht man sonst nur in Krisengebieten. Zudem sollen Boden-Luft-Raketen auf Wohnhäusern im Ernstfall ein entführtes Flugzeug abschießen.
Und, klar, gedopt wird auch fleißig. Erst am Mittwoch hat der Leichtathletik-Weltverband noch einmal neun Sportler gesperrt.
Wir werden versuchen, ihnen beide Gesichter dieser Spiele näher zu bringen. Die Faszination Olympia genauso wie die Spiele als Macht- und Wirtschaftsfaktor. Wir werden über naive Freude schreiben und über die düsteren Seiten. Über das Pure und das Verdorbene. Weil beides zu den Spielen gehört.