Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Michael Jackson ist nix dagegen

 

Für Matthew Herberts neues Album „Scale“ mussten 723 Objekte Töne lassen. Der britische House-Produzent hat aus Waldhorn und Anrufbeantworter, Taucheranzug und Düsenjet ein interessantes Pop-Album zusammengesetzt

Matthew_Herbert_Scale

Matthew Herbert geht es immer auch um die politische Botschaft. Er kritisiert die amerikanische Regierung, den Kapitalismus, die Globalisierung. Aber wer das nicht mag, muss das nicht hören. Denn seine jazz- und house-orientierte Musik tanzt auf doppeltem Boden. Nicht die gesungenen Texte verweisen auf die Übel dieser Welt, sondern die verwendeten Klänge.

Um den Irak-Konflikt zu thematisieren, baut Herbert aus Ölpumpenrattern und donnernden Tornado-Bombern einen Rhythmus zusammen. Will er für den Frieden werben, zückt er seinen Rekorder und nimmt den Unglücklichen auf, der sich vor dem Bankett einer Waffenhändler-Messe erbricht. Das gesammelte Tonmaterial wird anschließend digital bearbeitet und fließt in die Soundcollage des nächsten Stückes mit ein. Für sein neuestes Album Scale sind es 723 verschiedene Objekte, denen Herbert Geräusche entlockt hat. Einige von ihnen sind auf dem Album-Cover abgebildet: zum Beispiel ein Sarg, ein Kugelschreiber, eine Zapfsäule und eine Wäscheklammer.

Mit dieser Collagentechnik bewegt sich Herbert im Gefolge der konkreten Musik. Doch das Ausmaß seiner Kunst erschließt sich nur mit Gebrauchsanleitung. Weder Pumpen, noch Düsenflieger, noch der Magenkranke sind mit bloßem Ohr aus dem musikalischen Gesamteindruck herauszufiltern. Auf der Platte Scale verschwinden sie hinter einer facettenreichen Pop-Kulisse. Und das ist Absicht.

Denn Herbert hat das Songwriting wiederentdeckt, als ein Rezept gegen erdrückende Konzeptlast. Unter dieser war sein letztes Album Plat Du Jour von 2004 erstickt. Anschließend produzierte er das opulente Solo-Debüt von Róisín Murphy, der Sängerin von Moloko. Hat sie ihm die Ohren geöffnet? Plötzlich lässt sich Herbert wieder auf Wohlklingendes ein und befreit sich von seinem Kompositionsdogma.

Auf Scale widmet er sich mehr dem akustischen Vordergrund. Mit dem Ergebnis maximaler Eingängigkeit – für seine Verhältnisse. Dabei hat er aber nicht nur den Mut zum Gefälligen, Tanzbaren wiedergefunden, sondern auch Stile und Materialien vorangegangener Platten. Er verbindet Schöngeist-House (Bodily Functions) mit originellen Bigband- und Streicher-Arrangements (Goodbye Swingtime) sowie den für ihn typischen Blechdosen-Rhythmen. Dani Siciliano, seine Gefährtin, singt lässig dazu.

Unter der zitatreichen Siebziger-Funk-Hommage Moving Like A Train bebt der Tanzboden, und Frau Siciliano zeigt, was sie kann. Mit dieser Nummer hätte sie den jungen, weißgewandeten Michael Jackson im türkisfarbenen Laserlicht glatt alt aussehen lassen! Ähnlich eindrucksvoll auch Something Isn’t Right, ein vorwärts drängendes und in sich ruhendes Orchester-Pop-Opus – spannend besonders durch die zusätzlichen Stimmen von Dave Okumu und Neil Thomas. Auch die langsameren Stücke auf der Platte verquicken weichen Jazz und klappernde Experimental-Elektronik.

Matthew Herbert hat also mit Scale den Weg aus der eigenen Sackgasse gefunden: Fürs Erste gar nicht schlecht.

„Scale“ von Matthew Herbert ist erschienen bei Accidental/!K7

Ausschnitte seines neuen Albums präsentiert er am 3. Juni 2006 auf dem Moers-Festival

Hören Sie hier „Moving Like A Train“