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Wild tanzt die kleine Terz

 
Im zwanzigsten Stockwerk eines Warschauer Hotels beginnt die Reise des Jazztrompeters Paul Brody, in einem New Yorker Club endet sie. Neben ihm sitzt der erstaunte Béla Bartók.

David Murray Sacred Ground

Langsam wird die Erde abgetragen. Noch sind kaum Wurzeln zu sehen, nur Verästelungen. Die Melodie des Stücks Warzaw balanciert vorsichtig, die Rhythmen sind gebrochen, die Trompete stößt raue Töne aus.

Auf dem Weg nach Warschau las der Trompeter Paul Brody ein Gedicht des polnischen Dichters Czesław Miłosz, er beschreibt darin das Warschauer Ghetto. Im zwanzigsten Stockwerk eines Hotels schrieb Brody in dieser Nacht die Melodie des Stücks Warzaw. Sie ist beeinflusst von den Improvisationen John Coltranes und den Rhythmen Steve Colemans, von Ornette Colemans harmolodischem Konzept, von Béla Bartók und Charles Ives.

Mit dem Stück beginnt Paul Brodys neue CD For The Moment, erschienen bei John Zorns Label Tzadik. Tzadik ist hebräisch und bedeutet Der Wahrhaftige. John Zorn sagt, dass er vor allem an die Integrität seiner Künstler glaube. Auf den Platten bei Tzadik sei die Vision des Künstlers zu hören.

Das Titelstück nahm Paul Brody gemeinsam mit Zorn in New York auf. Brody erzählt, er habe die arabischen Melodien immer bewundert. Sie klängen wie eine lange Reise, eine Wanderung durch Berg und Tal. Schon immer habe er sich Klezmer-Melodien so vorgestellt, wie eine einzige lange Melodie, die nicht mehr aufhört.

Die Klezmer-Musik klinge manchmal traurig, sagt Brody, der Grund sei die kleine Terz. Diese Ähnlichkeit zur Tonleiter des Blues fasziniere ihn. Die Betonung einer Note verändere den Charakter eines Klangs vollkommen, wie ein musikalisches Hologramm. For The Moment erinnert an einen wilden Tanz, weniger an eine Reise durch beschauliche Landschaften. Die Traurigkeit der kleinen Terz klingt deutlicher in Pure As A Teardrop, einer flüsternden Melodie mit dem Sprechgesang Michael Alperts.

Seine Beschäftigung mit jüdischer Musik führte Paul Brody zu Béla Bartók. Der ungarische Komponist besuchte Dörfer und kleine Städte in den Bergen, um die alten Melodien aufzuschreiben. Ihm ist das Stück Bartoki gewidmet. Es beginnt tänzerisch, Christian Dawids Klarinette wird bald von Brodys Trompete übertönt. Schließlich entladen sich blecherne Bass-Rhythmen. Es klingt, als trete Bartók auf in einem New York Club. Der Komponist wäre sicher erstaunt.

Der elektrisch verzerrte Bass Martin Lillichs prägt die Stimmung vieler Stücke, sie erinnert an die Steelguitar Mark Ribots und den New Yorker Downtown-Sound der neunziger Jahre.

Überall begegnen Paul Brody Geschichten, er schreibt sie auf und macht Lieder aus ihnen. Und so werden die uralten, fast vergessenen Wurzeln sichtbar und treiben wieder aus.

„For The Moment“ von Paul Brody ist bei Tzadik erschienen.

Lesen Sie im Interview, was Paul Brody zum Jüdischen im Jazz und in seiner persönlichen Geschichte erzählt »

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