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Der jüdische Dylan

Ben Sidran ist Journalist und Musiker. Jetzt hat er aus alten Dylan-Songs wohlklingenden Jazz gemacht. Durchaus nicht unproblematisch.

© Nuzzcom

Die Sechzigerjahre waren die Zeit des Erwachens. Aufbruch und Hoffnung prägten das Bild Amerikas, wie es der junge Bob Dylan in seinen Texten zeichnete. Gerade war er aus Minnesota in New York eingetroffen, schon hatte er einen Plattenvertrag bei Columbia Records. Ob der einflussreiche jüdische Produzent John Hammond nun vor allem jüdische Musiker verpflichtete, böte Verschwörungstheorien Stoff. Weiter„Der jüdische Dylan“

 

Klarinette zu entdecken

Über die Jahre (45): Die experimentellen Alben von Rolf Kühn aus den siebziger Jahren waren lange nicht mehr erhältlich. Nun hat er für „More, More, More & More“ seine liebsten Stücke aus dieser Zeit zusammengestellt

Ein Foto, entstanden in den siebziger Jahren auf Ibiza: Der Klarinettist Rolf Kühn trägt enge Jeans, Koteletten bis zum Kinn, mehrere Ringe, sein Jeanshemd ist weit aufgeknöpft. Neben ihm stehen sein jüngerer Bruder, der Pianist Joachim Kühn, und der Perkussionist Nana Vasconcelos. Zu sehen ist es im Büchlein zu Rolf Kühns CD More, More, More & More – neben einer Reihe psychedelischer Airbrush-Bilder, die an Miles Davis‘ Bitches Brew erinnern.

Es war die Zeit der verzerrten Klänge, es waberten die ersten Synthesizer. Großartige Alben nahm Rolf Kühn damals für das Label Musik Produktion Schwarzwald (MPS) auf. Lange waren sie vergriffen, die Firma Universal kaufte vor zehn Jahren den Katalog von MPS auf und macht die Experimente des deutschen Jazzrock seitdem nach und nach wieder zugänglich. Auf More, More, More & More hat Kühn nun seine liebsten Aufnahmen der sechs Alben zusammengestellt, die in den Jahren 1971 bis 1980 erschienen.

Mitte der Fünfziger war er nach New York gekommen. Er wohnte zunächst bei der Pianistin Jutta Hipp und erlebte den Beginn des Free Jazz mit den Auftritten des Ornette Coleman Quartetts. Gleichzeitig spielte er Cool und Bigbandswing im Orchester von Benny Goodman.

Eine Sternstunde des aufkommenden frei improvisierten Jazzrocks ist Kühns erstes Album für MPS, Devil in Paradise aus dem Jahr 1971. Zu hören sind neben Kühn sechs der Musiker, die den Free Jazz früh prägten: Tony Oxley spielt das Schlagzeug, heute gehört er zu den großen Improvisatoren und begleitet den Pianisten Cecil Taylor; Albert Mangelsdorff spielt Posaune, und am Klavier sitzt der noch junge Joachim Kühn. Das Titelstück ist auch auf More, More, More & More zu hören: Rolf Kühns Klarinette nimmt eine Melodie Ornette Colemans auf, darunter mischen sich das Flüstern und Grummeln der Posaune Mangelsdoffs, das reibende Scheppern Oxleys und ein einfacher weicher Akkord Joachim Kühns.

Rolf Kühns frühe Aufnahmen für Impulse! Records sind schon länger wieder erhältlich. Nun wird die Lücke geschlossen. Die auf More, More, More & More zusammengestellten Stücke geben einen kleinen Einblick in die Klangwelt Kühns. Sie sind nicht chronologisch geordnet, ansonsten wäre die Entwicklung von den akustischen Free-Form-Experimenten der frühen siebziger Jahre über die elektronisch verstärkte Instrumentierung und die Arbeit mit synthetischen Klängen bis zu hin zu Jazzrock und Free Funk noch deutlicher nachvollziehbar.

More, More, More & More dokumentiert ein Stück Zeitgeschichte. Die elf Stücke eignen sich hervorragend, den ersten und vielseitigsten deutschen Jazzklarinettisten Rolf Kühn neu oder wieder neu zu entdecken.

Die Kompilation „More, More, More & More“ von Rolf Kühn ist bei MPS-Records/Universal erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(44) Tindersticks: „I“ (1993)
(43) The Sisters Of Mercy: „First And Last And Always“ (1985)
(42) Wareika Hill Sounds: „s/t“ (2007)
(41) Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (1977)
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)

Eine vollständige Liste der bisher in dieser Rubrik besprochenen Platten finden Sie hier.

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Die Welt neu ertastet

Der französische Saxofonist Jean-Luc Guionnet und der japanische Mischpult-Spieler Toshimaru Nakamura begeben sich auf gemeinsame Entdeckungsreise und erfinden klangliche Extremsituationen

Am Anfang ist Stille, ein Moment der Konzentration und des Innehaltens. Danach ertönt behutsames Knistern, ein Rauschen, schließlich der lang gezogene Ton des Altsaxofons. Schrill klingt er, fast schmerzhaft. Map heißt das Album, das der französische Saxofonist Jean-Luc Guionnet mit dem japanischen Mischpult-Spieler Toshimaru Nakamura aufgenommen hat, vier Klangkunstwerke haben sie aus dem Moment der Stille erwachsen lassen.

Jean-Luc Guionnet ist Philosoph, Maler und Musiker. Er spielt Altsaxofon und Kirchenorgel. Seine Kompositionen aus elektronischen und organischen Klängen bewegen sich an den Rändern zur Musique concrète. Klangerforschung betreibt Guionnet auf vielen Ebenen: Er spielt Free Jazz und Freie Improvisation, konzipiert Klanginstallationen und verfasst Abhandlungen über Klangästhetik.

Sein musikalischer Partner auf Map, Toshimaru Nakamura, spielte früher E-Gitarre und entwickelte dann das No Input Mixing Board. Er verstöpselt Eingang und Ausgang eines Mischpults und lässt die Eigengeräusche der Regler und die entstehenden Feedbackwellen erklingen. Das Mischpult gibt ihm die Möglichkeit, mit elektronischen Klängen sehr kontrolliert zu experimentieren. Langsamkeit zeichnet sein Spiel aus, ein sehr behutsamer Umgang mit Geräusch und Stille. Gemeinsam mit Sachiko M und Otomo Yoshihide erarbeitete er Ende der Neunziger das mikroskopische Klangkonzept der Onkyo-Musik, eine japanische Spielart der Freien Improvisation. Das Wort Onkyo beschreibt den Nachhall eines Klangs.

Map wurde im Rahmen zweier Begegnungen der beiden Musiker aufgenommen, im März 2007 in Montreuil und im Juli 2007 in der Collègiale Sainte-Croix in Parthenay. Guionnet und Nakamura erschaffen auf dem Album klangliche Extremsituationen. Die Stücke werden getragen von musikalischer Spannung und Intensität, in die sie mikroskopische Variationen einfließen lassen. Sie ertasten eine neue Welt, pflanzen Klänge in den Moment der Stille. Wie auf einer weißen Landkarte bewegen sich die Stücke langsam vorwärts. Sie hinterlassen Spuren, schmale Wege, die sich nach und nach vernetzen.

„Map“ von Jean-Luc Guionnet und Toshimaru Nakamura ist bei Potlatch erschienen.

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Sing mir Dein Lied!

Sanft und lockend wie die heiligen Lieder der amerikanischen Ureinwohner erklingt „Cantando“, das neue Album des schwedischen Pianisten Bobo Stenson

Bobo Stenson Trio Cantando

Es war die Zeit des sanften Protests: Im Jahr 1973 nahm der junge schwedische Pianist Bobo Stenson gemeinsam mit dem norwegischen Saxofonisten Jan Garbarek das Album Witchi-Tai-To auf. Der Titel bezog sich auf eine Komposition von Jim Pepper, die wiederum auf dem heiligen Lied des Wassers der amerikanischen Ureinwohner vom Stamm der Kaw beruhte. Das Witchi-Tai-To galt der Anerkennung der Kultur amerikanischer Ureinwohner, die seit Kolonialzeiten als „Indianer“ diskriminiert wurden. Auch Hasta Siempre von Carlos Puebla wurde damals immer wieder gespielt, es war – zwei Jahre vor der Ermordung Allendes in Chile – Sinnbild des gesellschaftlichen Aufbruchs. Jazzmusiker wie Garbarek, Stenson und Pepper, aber auch Charlie Haden und Don Cherry widmeten sich in ihrer Musik diesem Aufbruch.

Bobo Stenson lernte die amerikanischen Musiker in seiner Zeit in Paris und später in Stockholm kennen und spielte mit ihnen. Er war an vielen wichtigen Aufnahmen des spirituellen, politischen und stilistischen Aufbruchs beteiligt und nahm auch mit seinen eigenen Gruppen immer wieder Stücke auf, die den gesellschaftlichen Wandel thematisierten. So interpretiert er auf seinem neuen Album Cantando Stücke des kürzlich verstorbenen tschechischen Komponisten Petr Eben, des kubanischen Liedermachers Silvio Rodriguez, von Ornette Coleman und Don Cherry sowie die von Alban Berg vor einhundert Jahren komponierte Liebesode.

Don Cherrys Don’s Kora Song – in dem dieser das Thema von Hasta Siempre aufgriff – erinnert Stenson an die Zeit, die er mit Cherry verbrachte. Auf den Busfahrten der Band legte er oft Musik aus Mali ein. Dieser Klang habe ihn über Jahre begleitet, sagt Stenson. Viele der von ihm nun neu interpretierten Musiker sind nicht mehr am Leben, Cantando trägt ihre Musik weiter. Gerade in Don’s Kora Song taucht er so tief und konzentriert in die Melodie ein, als spiele er sie wieder gemeinsam mit Don Cherry.

Stenson lässt seinem Trio auf Cantando weiten Raum zum gemeinsamen Improvisieren. Er nennt das „freie Kammermusik“: Die Töne seines Klaviers breiten sich aus, wie die Schwingen eines gleitenden Vogels. Die gestrichenen Melodien des Bassisten Anders Jormin gleiten in den Raum, manchmal klingt sein Instrument wie ein Saxofon. Sparsam akzentuiert der Schlagzeuger Jon Fält das Spiel der beiden, obwohl er gerade erst zu Stensons Trio stieß, finden sie die Klänge. Viele Sequenzen sind ruhig und flächig, andere experimentell. Die Stilistiken fließen ineinander, die Töne haben Raum.

Cantando ist als Aufforderung zu verstehen, „Sing mir Dein Lied!“ Es kann auch bedeuten „Erzähl mir Deine Geschichte!“ Bobo Stenson erzählt die Geschichten seines Klanguniversums, die Stücke sind sanft und lockend, wie geflüsterte Liebeslieder – als singe er sein persönliches Witchi-Tai-To.

„Cantando“ vom Bobo Stenson Trio ist bei ECM erschienen.

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Zwitschern, dann Stille

Im Sommer kam der Pianist Esbjörn Svensson beim Tauchen ums Leben. „Leucocyte“ ist das beeindruckende Vermächtnis seines Trios e.s.t.

Leucocyte EST

Bengt Säve-Söderbergh, der ehemalige schwedische Botschafter und jetzige Präsident der Schwedischen Jazz-Föderation, saß an der Bar des Hotel Rival in Stockholm. Das Hotel gehört Benny Andersson von ABBA. Auf den Tischen im Foyer lagen Zettel, mit denen ein Konzert des Free-Jazz-Saxofonisten Mats Gustafsson in einem kleinen Club in der Nähe beworben wurde. Oben im Restaurant des Hotels saß der Posaunist Nils Landgren bei der Familie des verstorbenen Pianisten Esbjörn Svensson. Die Menschen kennen sich hier in Stockholm. Sie wissen umeinander, kennen die Geschichten der anderen.

Nach dem Tod Svenssons am 14. Juni 2008 hatte Benny Andersson den Theatersaal seines Hotels einer Gedenkfeier zur Verfügung gestellt. Ausgerichtet wurde sie von Svenssons Schlagzeuger und Freund Magnus Öström. Es war eine berührende Feier: Im Saal lief leise ein getragenes Stück von Sigur Rós, der Lieblingsband Svenssons. So war das immer vor Konzerten von e.s.t., des Esbjörn Svensson Trios. Auch die Instrumente auf der Bühne waren angeordnet, als trete die Band auf, der Flügel geöffnet, Bass und Schlagzeug in stummer Erwartung. Viele schwedische Künstler, mit denen Esbjörn Svensson zusammengearbeitet hatte, waren gekommen: Die Dichterin Kristina Lugn, der Saxofonist Joakim Milder und die Sängerin Lina Nyberg, die später mit dem Pianisten Anders Persson den Waltz For The Lonely Ones sang.

Später an der Bar erzählte Bengt Säve-Soderbergh von seiner Zeit mit Olof Palme und seiner ersten Begegnung mit dem Jazz, der Musik des gesellschaftlichen Aufbruchs. Und er erzählte von seiner ersten Begegnung mit Esbjörn Svensson, noch lange vor der Gründung des Trios. Berichtete, dass Svensson und Öström in den kleinen Clubs Stockholms auftraten und sie sich mit Aushilfsarbeiten im Ministerium ihre Musik finanzierten. Er habe die beiden damals gebeten, in die Schulen zu gehen, um den Kindern Jazz zu erklären.

Nun, zehn Jahre nach der Gründung des Trios, war Esbjörn Svensson auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angelangt. e.s.t. spielten Konzerte überall auf der Welt, selbst die New York Times und die Jazz-Zeitschrift Downbeat zollten ihnen Anerkennung. Im vergangenen Jahr nahmen sie in Sydney das Album Leucocyte auf, das jetzt erscheint. Der Titel ist programmatisch, wie die weißen Blutkörperchen, die den Körper vor Krankheiten schützen, erneuerten sich e.s.t. beständig.

So scheinen sie mit Leucocyte in eine neue Phase eingetreten zu sein. Lange, mehrteilige Kompositionen mit weiten, sich elektronisch verdichtenden Improvisationsbögen dominieren das Album. Die solo gespielte Ballade Decade eröffnet voller Ruhe und Offenheit. Metallische Klänge und das Inferno des Stücks Earth wischen diese Ruhe weg, das folgende Jazz beginnt düster, entwickelt sich zu einem treibenden Modern Jazz und zerfällt schließlich in seine Teile. Serielle Abfolgen, die an asiatische Tempelgongs erinnern, bilden eine meditative und verstörende Kulisse. Im fünfundzwanzigminütigen Titelstück fügen e.s.t. Fragmente zu einer langsamen Melodie zusammen.

Esbjörn Svensson engagierte sich im Umweltschutz, die Leukozyten im Titel könnten ein Sinnbild des Zustands der Erde sein. Stücke wie Decade oder Ad Mortem klingen wie unheimliche Vorahnungen, sie zeichnen ein düsteres Bild der Welt. Die poetischen, spielerischen Titel früherer Alben findet man hier nicht. Am Ende des Albums klingt in der malmenden, sich immer bedrohlicher wendenden Musik vereinzeltes Vogelgezwitscher auf, danach entfernt sich der Geräuschkreisel immer weiter. Zurück bleibt Stille.

„Leucocyte“ von e.s.t. ist bei Act/Edel erschienen.

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