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Klarinette zu entdecken

 
Über die Jahre (45): Die experimentellen Alben von Rolf Kühn aus den siebziger Jahren waren lange nicht mehr erhältlich. Nun hat er für „More, More, More & More“ seine liebsten Stücke aus dieser Zeit zusammengestellt

Ein Foto, entstanden in den siebziger Jahren auf Ibiza: Der Klarinettist Rolf Kühn trägt enge Jeans, Koteletten bis zum Kinn, mehrere Ringe, sein Jeanshemd ist weit aufgeknöpft. Neben ihm stehen sein jüngerer Bruder, der Pianist Joachim Kühn, und der Perkussionist Nana Vasconcelos. Zu sehen ist es im Büchlein zu Rolf Kühns CD More, More, More & More – neben einer Reihe psychedelischer Airbrush-Bilder, die an Miles Davis‘ Bitches Brew erinnern.

Es war die Zeit der verzerrten Klänge, es waberten die ersten Synthesizer. Großartige Alben nahm Rolf Kühn damals für das Label Musik Produktion Schwarzwald (MPS) auf. Lange waren sie vergriffen, die Firma Universal kaufte vor zehn Jahren den Katalog von MPS auf und macht die Experimente des deutschen Jazzrock seitdem nach und nach wieder zugänglich. Auf More, More, More & More hat Kühn nun seine liebsten Aufnahmen der sechs Alben zusammengestellt, die in den Jahren 1971 bis 1980 erschienen.

Mitte der Fünfziger war er nach New York gekommen. Er wohnte zunächst bei der Pianistin Jutta Hipp und erlebte den Beginn des Free Jazz mit den Auftritten des Ornette Coleman Quartetts. Gleichzeitig spielte er Cool und Bigbandswing im Orchester von Benny Goodman.

Eine Sternstunde des aufkommenden frei improvisierten Jazzrocks ist Kühns erstes Album für MPS, Devil in Paradise aus dem Jahr 1971. Zu hören sind neben Kühn sechs der Musiker, die den Free Jazz früh prägten: Tony Oxley spielt das Schlagzeug, heute gehört er zu den großen Improvisatoren und begleitet den Pianisten Cecil Taylor; Albert Mangelsdorff spielt Posaune, und am Klavier sitzt der noch junge Joachim Kühn. Das Titelstück ist auch auf More, More, More & More zu hören: Rolf Kühns Klarinette nimmt eine Melodie Ornette Colemans auf, darunter mischen sich das Flüstern und Grummeln der Posaune Mangelsdoffs, das reibende Scheppern Oxleys und ein einfacher weicher Akkord Joachim Kühns.

Rolf Kühns frühe Aufnahmen für Impulse! Records sind schon länger wieder erhältlich. Nun wird die Lücke geschlossen. Die auf More, More, More & More zusammengestellten Stücke geben einen kleinen Einblick in die Klangwelt Kühns. Sie sind nicht chronologisch geordnet, ansonsten wäre die Entwicklung von den akustischen Free-Form-Experimenten der frühen siebziger Jahre über die elektronisch verstärkte Instrumentierung und die Arbeit mit synthetischen Klängen bis zu hin zu Jazzrock und Free Funk noch deutlicher nachvollziehbar.

More, More, More & More dokumentiert ein Stück Zeitgeschichte. Die elf Stücke eignen sich hervorragend, den ersten und vielseitigsten deutschen Jazzklarinettisten Rolf Kühn neu oder wieder neu zu entdecken.

Die Kompilation „More, More, More & More“ von Rolf Kühn ist bei MPS-Records/Universal erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(44) Tindersticks: „I“ (1993)
(43) The Sisters Of Mercy: „First And Last And Always“ (1985)
(42) Wareika Hill Sounds: „s/t“ (2007)
(41) Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (1977)
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)

Eine vollständige Liste der bisher in dieser Rubrik besprochenen Platten finden Sie hier.

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