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Funksprüche vom Mississippi

 

John Scofield entlockt seiner Gitarre den Gospel: „Piety Street“ klingt mal wie eine Liebeserklärung an das ungeschminkte Amerika – und dann wieder glatt und kommerziell

John Scofield – I’ll Fly Away
 
Von dem Album: Piety Street Emarcy Records (2009)

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Der helle Asphalt ist aufgeplatzt, vom nahe gelegenen Mississippi tönen die Schiffssirenen herüber. Hier in Byswater, Downtown New Orleans, Ecke Piety Street und Dauphine, sind die Piety Street Recording Studios beheimatet, in einem ehemaligen Postgebäude. In Studio A hat der Gitarrist John Scofield seine Piety Street Band versammelt, um eine lang gehegte Idee umzusetzen: ein Jazzalbum mit alten Gospelliedern. Seine Mutter stammt aus New Orleans, der Stadt die noch immer so gezeichnet ist von den Verwüstungen des Wirbelsturms Katrina.

Vor den Fenstern hängen dunkelbraune Vorhänge, die Wände sind holzgetäfelt und auf dem Boden liegen dicke Teppiche. In dieser wohligen Atmosphäre nehmen Scofield, der aus England stammenden Sänger John Cleary, der südafrikanische Schlagzeuger Ricky Fataar, der Bassist George Porter Jr. und der Sänger John Boutté (beide kommen aus New Orleans) einige der Lieder neu auf, die Scofield durch seine Kindheit und Jugend begleiteten und die er als Basis seiner Musikalität betrachtet. Vier Tage lang spielen sie sie immer wieder durch, bis sie sich endlich so anhören und -fühlen, wie er es sich vorstellt.

John Scofield gefiel die Doppelbedeutung des Wortes Piety, Frömmigkeit. So nannte er die Platte, auf der sein verjazzter Gospel nun nachzuhören ist, nach dem Ort, an dem sie entstand: Piety Street. An die Vorlagen erinnern die Lieder kaum mehr. In den langen, instrumentalen Jam-Intros versetzt Scofields E-Blues-Gitarre die Melodien in ein zerrendes Vibrieren, unterlegt von einem Saloon-Piano und einem ländlichen Country & Western-Rhythmus. Piety Street klingt wie eine Liebeserklärung an das ungeschminkte, das ehrliche Amerika. Im Jazz, sagt Scofield, kämen alle Elemente der amerikanischen Musik zusammen, die frühen Spirituals der schwarzen Kirchen und die weißen Folk-Gesänge.

Eine besondere Bedeutung misst er dem Stück I’ll Fly Away bei. Neben der traditionellen Kirchenfassung entdeckte er es in einer Country-Version – in dem Film Oh Brother, Where Art Thou? von Joel und Ethan Coen. Die gefiel Scofield so gut, dass auch er nun im schaukelnden Country-Rhythmus durch die endlose Prärie in den Sonnenuntergang reitet.

It’s A Big Army ist das einzige von ihm selbst geschriebene Stück auf dem Album, hier fügte er verschiedene Elemente zusammen. Der Jazz wurzle in der Dixieland-Musik aus New Orleans, sagt er, der populärste Gospel sei When The Saints Go Marching In. So habe er die Akkordfolge dieses Stücks aufgegriffen und seinen Gesang darüber gelegt: „I’m a soldier in the army of the Lord, I’m a soldier in the army“,singt er, ebenfalls eine uralte Gospelzeile.

Das Stück habe nichts mit dem Irakkrieg zu tun gehabt, erzählt Scofield. Als er im Jahr 1970 mit seiner musikalischen Ausbildung beginnen wollte, habe er den Musterungsbescheid erhalten. Ein paar Tage vor dem Termin bekam er die Nachricht, es würden vorerst doch keine zusätzlichen Soldaten nach Vietnam geschickt. Eine Fügung.

Im Vordergrund von Piety Street klingt wieder einmal Scofields treibender Funk – das ist keine Überraschung angesichts der beteiligten Musiker. Nur The Old Ship Of Zion beginnt als tief schwingender Blues, es klingt wie eine Reise durch die Zeit. Scofields Riffs gleiten da ruhig atmend über die Wellen der elektrischen Orgel. Wenn der der Gesang einsetzt glättet sich die Oberfläche, übrig bleibt eine bruchlos geschliffene, kommerziell perfekte Produktion. Gospel to go. In aller Frömmigkeit und ohne religiöse Selbstzweifel.

„Piety Street“ von John Scofield ist bei Emarcy/Universal erschienen.

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