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Alles Island-Klischees?

 

Sigur Rós zeigen auf der Hülle ihres neuen Albums ganz ungeniert ihre vier blonden Popos. Sie spielen Musik, die nach Wildbächen, Elfen und freier Liebe klingt. Und manchmal rumpelt es ganz gehörig.

Sigur Ros Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust

Schön ist es im Island von Sigur Rós. Kürzlich luden sie das Publikum mit dem Film Heima ein zu einer Reise über die dünn besiedelte Insel. Die Band spielte ihre getragenen Lieder nicht in großen Hallen sondern in den Häusern der Menschen, auf ihren Weiden, sie traten auf am Fuß eines Gletschers und in einer Ruine.

Vielleicht lag es an den warmen Farben der Bilder, vielleicht an den entspannten Inselbewohnern, dass Heima wirkte wie der heimliche Blick in die Zimmer einer großen Wohngemeinschaft. Isländer lieben nicht die Nation oder den Staat, sie lieben die Natur. Der Film legt nahe, dass das mehr ist als ein Klischee.

Kein Wunder also, dass die Beschreibungen der Musik von Sigur Rós, von Björk und vielen anderen Isländern so leicht abschweifen und die Naturverbundenheit der Lieder ausmalen. Die für mitteleuropäische Ohren unverständliche Sprache und die ungewöhnlichen Schriftzeichen weben das geheimnisvolle Tuch nur dichter.

Ob es ein Spiel mit Stereotypen ist? Von der Hülle des Albums Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust blitzen die vier blonden Popos der Musiker. Natürlich rennen die Jungs von Sigur Rós, weil sie sonst frieren, dort im ewigen Eis Islands. Nur die Leitplanke im Vordergrund stört die Idylle.

Assoziationen an Wildbäche, Elfen, freie Liebe und sphärische Klänge werden wach, das ganze Programm. Doch dann klingt das Album gar nicht wie erwartet. Besonders die ersten beiden Stücke Gobbledigook und Inní Mér Syngur Vitleysingur sind rhythmischer geraten als alle Stücke ihrer bisher vier Langspieler. Beinahe rumpelig geht es zu, alle kloppen gemeinsam auf die Eins. Dann plötzlich bricht der Rhythmus – ist das nun ein Vierviertel- oder ein Dreiviertel-Takt?

Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist das erste Album der Band, das außerhalb Islands aufgenommen wurde. Zwei Stücke tragen englische Titel. Ist nun alles anders, ziehen Sigur Rós weg vom Klang Islands zum Klang Englands? Glücklicherweise: Großbritannien interessiert sie nicht mehr als zuvor. Und singen sie da überhaupt englisch? Weder im Lied Festival noch in All Alright ist verständlich, was vorgetragen wird.

Nach den ersten beiden Stücken kommen Sigur Rós ein wenig zur Ruhe. Festival ist eine anfangs typisch sphärische, später kraftvolle Hymne mit viel uuuuhuuuuhuuuu und juuuuhuuuuhuuuu. In dem Stück Við spilum endalaust klingen sie wie Coldplay – und zwar wie Coldplay zu der Zeit, als sie noch nicht nach U2 klangen, U2 aber bereits wie der Papst. (Das ist durchaus ein Lob.) Sigur Rós schwelgen ohne Hall, Kjartan Sveinsson haut eine schnörkellose Melodie in die Tasten, Jón Þór Birgisson schwingt sich im Refrain auf ins Falsett.

Stellenweise klingt das Ganze überladen, kein Wunder, hat doch der Produzent der Platte auch schon im Dienste von U2 und den Smashing Pumpkins Gitarrenschicht um Keyboardschicht auf das Magnetband geschmiert. Wenn der Bass laut brummt, Schlagzeug und Klavier scheppern, die Keyboards säuseln, im Hintergrund eine Gitarre jammert und vier Stimmen die Tonleiter heraufsteigen, braucht es dann auch noch ein Glockenspiel?

Dem Kleister geben sich Sigur Rós zum Glück nur selten hin. Und sie wissen jeweils, dem Dichten mit dem nächsten Stück etwas Karges entgegenzusetzen. Við Spilum Endalaust endet im Fortissimo, das anschließende Festival spendet fünf Minuten Erholung, bevor ein Basslauf einsetzt, dem man stundenlang folgen möchte.

Die zweite Hälfte der Platte klingt wieder ruhiger, getragen und hymnisch, mit viel Klavier und wenig Schlagzeug. Immerhin haben Sigur Rós auch in diesen Stücken an dem Hall gespart, der auf früheren Alben manchmal so störte. Das finale All Alright ist so karg vorgetragen, als sei es ein Schlaflied.

Am Ende steht die Einsicht: Das eigentlich Aufregende an Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist die erste Hälfte. Die zweite ist immerhin gewohnt hübsch, entlockt dem Klangkosmos der Band allerdings kaum Neues.

»Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« von Sigur Rós ist als CD bei EMI erschienen.

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