Möwen, Melancholie und Lissabon: Mísia, die große Stimme des Fado, singt auf ihrem neuen Doppelalbum ganz herzzerreißend von portugiesischer Sehnsucht
Lissabon ist eine Metapher für Nostalgie und Weltschmerz. Nichts könnte die portugiesische Saudade wohl besser ausdrücken als der Fado. Auf ihrer neuen CD Lisboarium führt die Sängerin Mísia ihre Zuhörer auf einer poetischen Spurensuche durch die verwinkelten Gassen ihrer Heimatstadt.
Mit herzzerreißender Stimme, untermalt von melancholischen Gitarrenrhythmen, singt sie in E’ noite na Mouraria von den Nächten in dem Armenviertel, das als Ursprungsort des Fado gilt. Ihre Lieder handeln vom Abschiednehmen und der Flüchtigkeit des Glücks. Wer durch die Stadt am äußersten Rand Europas flaniert, wird durch das Geschrei der Möwen früher oder später wieder aufs Meer hinaus gelockt.
Was bleibt, sind Traumbilder von Lissabon und der Liebe. Mit Glockengeläut beginnt Canção de Lisboa, ein Lied, das „unendlichen Schmerz“ und die „furchtbare Sehnsucht“ nach der Altstadt Alfama, der Burg São Jorge und dem multikulturellen Madragoa-Viertel ausdrückt. Ein letzter Blick fällt vom Kai auf die tausend Fenster der Stadt, bevor das Schiff ablegen wird.
Mísia hat diese innere Zerrissenheit selbst erlebt. Die Tochter einer spanischen Tänzerin und eines portugiesischen Ingenieurs hat in Barcelona und Madrid gelebt, bevor sie vor einigen Jahren nach Paris zog. Viele sehen in ihr die Nachfolgerin der legendären Fado-Sängerin Amália Rodrigues.
Sie hat aber auch viel zur Erneuerung des traditionellen Musikstils beigetragen. Ihrem Fado-Gesang lässt sie nicht nur durch Gitarren, sondern auch durch Geigen, Klavier und Akkordeon begleiten. Ihre Texte sind nicht streng historisch. So schrieb ihr der Dichter Paulo José Miranda eigens den Fado da Rua da Bica, der das Ende einer Liebe beklagt.
Als Hommage an ihre neue Wahlheimat singt Mísia den französischen Fado inventaire, der aus der Feder des Lyrikers Vasco Graça-Moura stammt. Schon im nächsten Lied Lisboa não sejas francesa ermahnt sie ihre Stadt jedoch, nicht mit Paris zu konkurrieren: „Lissabon, sei nicht französisch. Mit aller Gewissheit wirst Du nicht glücklich sein…“
Dass Mísia die Seele des Fado auch in anderen Kulturen wiedererkennt, spiegelt sich im zweiten Teil des Doppelalbums Ruas. Auf der CD Tourists sind ganz unterschiedliche Musikstile und Sprachen miteinander kombiniert. Mísia interpretiert Rocksongs wie den durch Johnny Cash populär gewordenen Titel Hurt, den Evergreen Love will tear us apart von Joy Division, französische Chansons von Dalida und Barbara, spanischen Flamenco und das neapoletanische Lied Era di Maggio, das sie im Duett mit Peppe Servillo von der Band Avion Travel singt.
Auch wenn Lisboarium durch seine Poesie und die Gefühlstiefe der Musik eindringlicher wirkt, ist Tourists ebenfalls hörenswert. Mísia präsentiert auf dieser CD ihre bisher unbekannten Seiten, singt wehmütig auf türkisch (Biraz Kül Biraz Duman) und sogar auf Japanisch (Aishuh Hatoba). Kaum zu glauben, dass der ferne Osten so melancholisch sein kann wie Portugal.
Das Doppelalbum „Ruas“ von Mísia ist bei Polydor/Universal erschienen.
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