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Tristesse total

 

Auch auf seinem achten Album singt Jamie Stewart alias Xiu Xiu von Brutalität, Pädophilie, Bulimie. Warum man sich seinen Gothicpop trotzdem anhören sollte.

Jamie Stewart und seine Assistentin © Kill Rock Stars

Traurige Menschen machen die schönste Musik, heißt es. Solche, in der man sich finden und versinken könne, die die grauen Ecken des Daseins mit Melancholie ausleuchte.

Ob Jamie Stewart ein trauriger Mensch ist? Wohl kaum. Denn er klingt wie einer, der noch gar nicht realisiert hat, was er da Schreckliches berichtet. Traurigkeit setzt ein Innehalten voraus, das er sich nicht gönnt. Nein, er steht unter Strom, rennt weiter, weiter, weiter. Ans Verarbeiten ist da noch lange nicht zu denken.

Seit gut zehn Jahren tritt Jamie Stewart mit wechselnden Partnern als Xiu Xiu auf (man spricht das „Schuh-Schuh“). Sieben Alben sind erschienen und eine unüberschaubare Zahl sogenannter Split-Singles, Vinylscheibchen also, auf denen zwei Künstler je eine Seite bespielen. Eine dieser Singles teilte er sich mit Devendra Banhart. Dear God, I Hate Myself heißt nun das neue Album von Xiu Xiu.

Tristesse total: Jamie Stewarts Lieder stecken voller Brutalität, handeln von Pädophilie und Abtreibung, Bulimie und Totschlag. Das jedenfalls schließt man aus den Worten, die er singt. Er trägt einen inneren Monolg vor, kehrt sein Inneres nach außen. Das ist häufig schwer zu entschlüsseln – und manchmal auch nicht einfach zu ertragen.

Und er ruft die Texte wie einer, den sie in die Ecke getrieben haben. Wie einer, der sich nur noch wehren kann, in einer Tonlage, die die Stimme kaum hergibt, verzweifelt und panisch. „Hässlich“ und „Tod“ sind die am häufigsten gesungenen Worte, doch auch „glücklich“ kommt ab und zu mal vor.

„Die Verzweiflung hat einen Platz in meinem Herzen – einen größeren als du. Und ich werde immer netter zur Katze sein als zu dir“, singt er im Titellied. Und: „Lieber Gott, ich hasse mich. Und ich werde niemals glücklich sein, und ich werde mich nie normal fühlen.“ Eieiei.

Warum nun sollte man sich das Ganze überhaupt anhören? Weil die musikalische Verpackung alles andere als freudlos ist. Hier schimmert sie düster und undurchsichtig. Aber dort wieder ist sie überdreht, wild, auch aggressiv. Hier erklingen drollige Spielinstrumente, dort schwingen kühle Achtziger, melodiöser Gothicrock. So ungebremst wie die unverdauten Emotionen fliegen einem auch die Töne um die Ohren.

So ähnlich klingt allenfalls Patrick Wolf, nur kann der besser singen. Und da sind weitere Ähnlichkeiten: Beide bedienen das Bild des introvertierten, genialischen Einzelgängers; beide wurden um das Jahr 2004 herum mit etwa zeitgleich beim Kölner Label Tomlab erschienenen Alben bekannt. Beide machen eine Musik, die gerne Gothicpop genannt wird.

Und diese Musik scheint nur schwerlich einen Ort zu finden. Patrick Wolf landete bei einer großen Plattenfirma, die ihn wieder fallen ließ. Jamie Stewarts Platten erscheinen schon immer hier und dort, immer bei kleinen Labels. „Wow!“ entfährt es den Labelchefs, wenn sie die Demoaufnahmen hören. „Wow!“ entfährt es ihnen wieder, wenn sie die Verkaufsstatistiken sehen. Eines der Labels hieß Nail In The Coffin – Sargnagel. Dear God, I Hate Myself erscheint jetzt bei einem, das heißt Kill Rock Stars. Klingt ja beinahe hoffnungsfroh.

„Dear God, I Hate Myself“ von Xiu Xiu ist auf CD und LP bei Kill Rock Stars/Cargo erschienen.