Im phonetischen Minenfeld: Auf „Motown Around the World“ spielen Marvin Gaye und Stevie Wonder ihre Hits auf Deutsch und Italienisch
Motown in den sechziger Jahren – das war kein Zuckerschlecken, selbst für jene, die es später zum Star brachten. Wer in Berry Gordys Musikmanufaktur anfing, war erst einmal nichts anderes als ein kleiner musizierender Angestellter am Fließband der Pop-Produktion. Und da galt es einiges auszuhalten an Drill und wohl gemeinten Zumutungen. Benimmtraining für die Supremes, Tanzstunden für den bühnenscheuen Marvin Gaye, endlose Tourneen, und dazu über allem eine unerbittliche Qualitätskontrolle, für die der Erfolg des Labels alles und künstlerische Freiheit lange Zeit gar nichts bedeutete: Alles wurde getan für den Crossover ins breite, also auch weiße, und bald europäische Publikum. Sogar Motown-Songs auf Deutsch.
Vielleicht empfand man es bei so viel Unterordnung auch nicht weiter schlimm, wenn man als angehender Motown-Star auch noch in fremden europäischen Sprachen mit seltsamen Umlauten und Akzenten singen musste. Stevie Wonder auf Italienisch und Spanisch, die Velvelettes auf Französisch, eingedeutschte Motown-Hits und deutsches Schlagermaterial, aufgenommen von Marvin Gaye, den Supremes und den Temptations, die gleich auch noch in Holland veröffentlicht wurden, weil das Supremes-Deutsch von Detroit aus so ähnlich wie Niederländisch klang – all das und mehr bietet eine feine CD-Compilation mit dem selbstironischen Untertitel The Classic Singles. Das schön gestaltete, textlich leider etwas dürftige Booklet kommt in Form eines Reisepasses daher – passend zu Motown Around The World, dem Titel dieses Nachklatsches zum 50-jährigen Motown-Jubiläum im vergangenen Jahr.
Die meisten der insgesamt 38 Aufnahmen der Jahre 1963 bis 1980 klingen komisch angestrengt bis anrührend surreal, weil sich sängerischer Ausdruck und korrekte Aussprache oft gegenseitig im Weg stehen. Edwin Starr etwa klingt in Che Forza – der italienischen Version von Soul Master – durchaus nach Edwin Starr, sein Italienisch allerdings hält man beim ersten Hören für eine ganz ungewöhnliche italo-amerikanische Geheimsprache. Umgekehrt scheinen die Supremes mehr Wert die phonetische Qualitätskontrolle gelegt zu haben – dafür staksen sie sängerisch durch Baby, Baby, wo ist unsere Liebe (Where did our love go) wie durch ein phonetisches Minenfeld.
Der sprachgewandteste Motown-Sänger war eindeutig Stevie Wonder. Nicht nur, dass er mit Abstand die meisten Songs – meist seine eigenen – auf Spanisch und Italienisch sang. Er klingt dabei auch stets lockerer und mehr nach sich selbst als all seine Motown-Kollegen. Wonder scheint auch der einzige gewesen zu sein, der sich nicht nur im Studio, sondern auch live an fremdsprachiges Material wagte: Mit Se Tu Ragazza Mia trat er 1969 beim Festival von San Remo auf.
Die größte Herausforderung allerdings hatte Marvin Gaye mit dem extrem langsamen und deswegen aussprachetechnisch diffizilen Sympatica zu bestehen. Neben dem sprachlichen Hürden verlangte ihm diese Aufnahme auch stilistisch einiges ab: Bei dem Lied handelt sich nämlich nicht um einen eingedeutschten Motown-Song, sondern Marvin Gayes einzigen Beitrag zum deutschen Schlager. Der Text – „Sympatica, für uns ist nun die Liebe da/ Ich finde dich so wunderbar wie keine andere/ Als ich dich damals sah, am blauen Ozean/ Da fing die Story an, für uns beide“ – stammt von der deutschen Texterin Fini Busch (1928-2001), die Musik von ihrem langjährigen Kompositionspartner Werner Scharfenberger (1925-2001). Beide gehören mit Titeln wie Lale Andersens Ein Schiff wird kommen und Ted Herolds Moonlight zu den erfolgreichsten Komponisten des deutschen Schlagers.
Auch wenn Originalsingles wie Sympatica heute zu Sammlerpreisen gehandelt werden – einen Erfolg hatten damals nur die wenigsten auf Deutsch, Spanisch oder Italienisch gesungenen Motown-Singles. Am erfolgreichsten waren noch die Supremes mit Thank You Darling – ebenfalls aus der Feder von Busch und Scharfenberger -, mit dem es die Girl-Group um Diana Ross 1965 immerhin auf Platz 18 der deutschen Charts schaffte. Warum also diese merkwürdigen Aufnahmen? Weshalb der Aufwand?
Aus Berry Gordys Sicht war es sinnvoll, Marvin Gaye oder die Supremes Deutsch singen zu lassen, weil die Welt des Pop vor dem Durchbruch der Beatles noch nicht so englischsprachig war wie wir das heute gewohnt sind. Selbst nach der British Invasion dauerte es in Deutschland bis Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, dass Songs mit englischen Texten nicht nur akzeptiert, sondern sogar als das wünschenswerte, authentische Original galten.
Vor den Beatles – von denen es aus dem gleichen Grund deutschsprachige Aufnahmen gibt – war diese Entwicklung kaum abzusehen. Pop- und Schlagertexte waren entweder ohnehin auf Deutsch, eingedeutscht oder bewegten sich in einem merkwürdig Kauderwelsch, das deutsche Sätze mit fremdsprachigen Einsprengseln garnierte. Schlagersänger mit Akzent konnten auf einmal punkten so lange sie einigermaßen verständlich waren, manche legten sich sogar einen künstlichen Akzent oder wenigstens ein Pseudonym zu. Die Karrieren von Connie Francis, Petula Clark, Paul Anka und Cliff Richard beruhten geradezu darauf, dass sie zahllose Songs auch auf Deutsch, Französisch oder Italienisch aufnahmen.
Dass Motown diesen Weg nur ganz kurze Zeit und mit äußerst geringem Erfolg ging, hatte mehrere Gründe. Der wichtigste dürfte der durchschlagende Erfolg der Beatles, aber auch der baldige Erfolg der Motown-Musik sein – auf Englisch auch außerhalb der USA und Großbritanniens. Außerdem war die Musik aus Detroit einfach zu weit vom deutschen Schlager entfernt: phonetisch wie musikalisch. Wer den Unterschied hören möchte, braucht einfach nur Sympatica mit Wie schön das ist zu vergleichen, der Eindeutschung von How Sweet It Is (To Be Loved By You). Bei dem einen ist Marvin Gaye für zweieinhalb Minuten deutscher Schnulzensänger. Beim anderen bleibt er Motown-Sänger, auch wenn er hörbar mit dem deutschen Text zu kämpfen hat.
„Motown Around The World“ ist erschienen bei Motown (Universal)