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Selten klang Finsterpop schöner

 

Über die Jahre (61): „Disintegration“ ist ein Meisterwerk von The Cure. Im Erscheinungsjahr 1989 wollte die Plattenfirma das nicht verstehen, jetzt hingegen wird das Album sogar neu aufgelegt.

© Andy Vella

Das Jahr 1989 war eine gute Zeit, um The Cure zu sein. Die Musiker hatte schon einige Hits, Kritikern galten sie als Protagonisten des Gothicrock. Aber Robert Smith hatte keine Lust, den geschminkten Popstar zu spielen. Bald sollte er dreißig Jahre alt werden. Sein Meisterstück als Songwriter stand jedoch noch aus. Er war spät dran. Depressiv, missverstanden, verlobt und auf LSD beschloss er, seine Band zurück in düstere Gefilde zu führen.

Britisch sollte die nächste Platte klingen, nach Nebel, brennendem Holz und welken Blättern. Aber was die Chefs der amerikanischen Plattenfirma Elektra zu hören bekamen, ließ sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Zu düster, zu schwerfällig, zu viel endloses Instrumentalgewaber, zu wenig Gesang. Wo waren die Hits? Disintegration klang nach musikalischem Waldsterben. Nach Weltuntergang in Zeitlupe. Kommerzieller Selbstmord, befand die Plattenfirma und ließ die Veröffentlichung verschieben.

Die Größe dieses Albums war den Plattenbossen leider verborgen geblieben. In jedem Song schufen The Cure eine außergewöhnliche Atmosphäre: Langsam schleicht sich die Musik heran, Schlagzeug und Bass entwickeln einen morbiden Groove, der immer tiefer hinab ins Dunkel zu führen scheint. Wie der Spinnenmann im Video zu Lullabye legen The Cure ihre Netze aus. Aus den schimmernden Versatzstücken werden Melodien erkennbar, bis Robert Smiths Stimme in die Dämmerstimmung bricht. Ein schaurig-schöner Sog entsteht. Ja, dieses Album ist genial konstruiert und bis ins Detail durchdacht. The Cure spielen Lieder zwischen Traum und beklemmender Ruhelosigkeit und lassen konventionelle Popmuster hinter sich.

Wie penibel die Band an der musikalischen Dichte der Platte arbeitete, lässt sich an der soeben erschienenen Deluxe Edition nachvollziehen. Das beigefügte Rohmaterial aus Probeaufnahmen und Demos offenbart neue Einblicke in die Vielschichtigkeit des Albums. Besonders beeindruckend ist, wie gut die Stücke ohne jeglichen Gesang funktionieren. Robert Smith hatte einen Hang zur Filmmusik. Dieses Album bot ihm die Möglichkeit, musikalische Stimmungen in aller Ruhe zu entwickeln.

Dass Disintergration trotz seiner atmosphärischen Dichte nie überladen klingt, ist der Experimentierfreude der Band zu verdanken. Ungewöhnliche Gitarren- und Klangeffekte und fast schon formlose, sonore Melodien werden zum Charakteristikum der Platte. Sei es im genialen Pictures Of You, in der Gruselballade Lullabye mit ihren opulenten Streichern oder im pulsierenden Fascination Street – The Cure finden eine Balance aus plüschiger Finsternis und gepflegtem Herzschmerz. Selten klang schlecht ausgeleuchteter Pop schöner.

Die Plattenbosse wunderten sich ganz schön, wie massenkompatibel dieser „kommerzielle Selbstmord“ dann tatsächlich war. The Cure fanden sich plötzlich in riesigen Stadien wieder, spielten vor Zehntausenden Fans. Was als beinahe experimentelle Meditation über zerbrochene Beziehungen und menschliche Enttäuschungen begonnen hatte, entwickelte jedoch ein sonderbares Eigenleben. Streitigkeiten, Erschöpfung und ein mit dem gigantischen Erfolg vollkommen überforderter Robert Smith rissen die Band schier auseinander. Mit Disintegration hatte Robert Smith zwar sein künstlerisches Opus magnum geschaffen. Doch in der Realität, jenseits der nebligen Traumwelt, sollte sich sein Titel bewahrheiten.

Die Deluxe Edition von „Disintegration“ von The Cure ist bei Universal erschienen und enthält neben zusätzlichen Demo- und Probeaufnahmen die Live-CD „Entreat“ mit einem Konzert aus der Londoner Wembley Arena von 1989.