Der amerikanische Jazzer Kenny Werner hat seine Tochter verloren. Das Opus Magnum „No Beginning, No End“ bringt seine Trauer zum Ausdruck – modern, berührend und kunstvoll.
Am 2. Oktober 2006 widerfährt Kenny Werner der größte anzunehmende Horror: Seine Frau Lorraine ruft an mit der Nachricht vom Unfalltod der Tochter Katheryn. Es folgen Wochen der Depression. Als Werner wieder die Kraft zum Arbeiten findet, stürzt er sich wie besessen in die Komposition von No Beginning, No End.
Viele andere würden in solcher Trauer Kitsch produzieren. Er tut das diametrale Gegenteil. Dafür sorgt – neben der tiefen Verwurzelung des Musikers im Jazz – auch der Kompositionsauftrag, den er zum Gefäß für seine Erinnerung an Katheryn ummodelt: ein Werk für das Blasensemble des Massachusetts Institute of Technology (MIT), bestellt zum 80. Geburtstag des Mäzens Bradford Endicott.
„Ich hatte noch nie für so ein Ensemble geschrieben“, schreibt Werner im Booklet seiner neuen CD. Mit dem Dirigenten des MIT Wind Ensembles, Fred Harris, erarbeitet er sich die Grundlagen des Komponierens für Holz- und Blechbläser. Dazu kommen Percussion, Werner selbst am Klavier, sein Freund Joe Lovano am Saxofon und die Sängerin Judi Silvano. Neben dem fünfteiligen Kernstück No Beginning, No End sind auf der CD auch das textlose Chorwerk Visitation: Waves Of Unborn, das Streichquartett Cry Out und Coda, eine Improvisation für Klavier, Vibrafon, Marimba und Harfe.
Banal sind allenfalls die Texte, die Judi Silvano singt. Werner hat sie mitten in der dunkelsten Trauerphase geschrieben, hat darin seinen Gefühlen Ausdruck verliehen, seiner Hoffnung vor allem, in Zeilen wie: „flocks of souls travel together / on wings of eternity„, „there is a flame / that shines, that shimmers / with this flame She lights the way„. Von einem Vater, der gerade seine 16-jährige Tochter verloren hat, kann man wohl keine komplexe Lyrik verlangen.
Er wäre sogar verzeihlich, schriebe er in einer solchen Lebensphase schlichtere Musik als sonst; man müsste sie ja nicht hören. Aber es ist ihm gelungen, seinem Leid einen ästhetisch adäquaten Ausdruck zu verleihen. Und auch dem spirituellen Licht, das in dieses Dunkel scheint.
Werners Werk vereint durchkomponierte moderne Klassik mit improvisierten Elementen aus dem Jazz und aus indischen Musiksystemen. Es ist ein massives Opus Magnum mit nahezu 100 Musikern, das aber intime, berührende, fragile Momente birgt. Es ist spröde, manchmal schwer zugänglich, nicht, um einen avantgardistischen Kunstanspruch zu behaupten, sondern aus sich heraus, durch sein Thema, seine Entstehungsgeschichte bedingt.
Der Pianist hat die Kompositionen als „wichtigste Musik, die ich je schreiben werde“ bezeichnet. Ein großes Wort für einen Musiker, der seit den Siebzigern mit verschiedenen eigenen Bands, mit Archie Shepp und Toots Thielemans, mit Eddie Gomez, Tom Harrell und Betty Buckley unterwegs ist.
So richtig berühmt geworden ist er nicht; Werner ist ein musicians‘ musician, ein Musiker, der vor allem in der Musikwelt berühmt ist. Er erhält Kompositionsaufträge vieler namhafter Ensembles, unterrichtet an der New York University und in etlichen Workshops andernorts und hat ein in der Musikwelt weithin beachtetes Lehrbuch mit dem Titel Effortless Mastery (Mühelose Meisterschaft) geschrieben.
Ein Charterfolg wird auch No Beginning, No End nicht werden, nicht einmal in der Jazzsparte, wo manchmal noch andere Gesetze gelten als im Popzirkus, wo auch introvertierte und schräge Alben Chancen haben. Dafür ist die Musik zu schmerzlich, zu schwer, zu schwer zu ertragen. Vor allem, wenn man sich dazu die Fotos von Katheryn anschaut, vom Baby bis zum Teenager, die dem Mädchen im Booklet ein Denkmal setzen. Nein, auch das ist kein Kitsch. Es ist ergreifend.
Dass allerdings Bradford Endicott ausgerechnet zu seinem 80. Geburtstag Zeilen zu hören bekam wie „death is not an end„, und dass er, so schreibt zumindest Werner, nichts dabei fand – das ist auch ein Zeichen von Größe.
„No Beginning, No End“ von Kenny Werner ist erschienen bei Half Note Records