Das zweite Album des Szene-Messias aus Wisconsin: Der Songwriter Justin Vernon sucht sich auf „Bon Iver“ selbst und begibt sich dabei an schwer erklärbare Orte.
Wer Alben von Phil Collins besitzt, verrät die Idee des Pop und so manche Beziehung. Das ist einer der Leitgedanken in Nick Hornbys Roman High Fidelity. Eine noch schlimmere Rolle kommt Phil Collins in Bret Easton Ellis‘ literarischem Albtraum American Psycho zu: Die aalglatten Songs des britischen Rockstars sind der Soundtrack zum sadistischen Gemeuchel der Romanfigur Patrick Bateman.
Phil Collins ist ein Platzhalter für massentaugliches Mittelmaß. Und die Anhänger von Justin Vernon müssen schon sehr enttäuscht sein, wenn sie den feinnervigen US-Songwriter ausgerechnet mit Phil Collins in Verbindung bringen. Im Internet haben sie den Song Beth/Rest auf Vernons neuem Album Bon Iver genüsslich zerpflückt: die wolkigen Keyboard-Klänge, die von Flanger-Effekten verhangenen Gitarren und die schwammige Melodie erinnerten an den größten Collins-Hit In the Air Tonight. Sollte sich da jemand einer Liebeserklärung an die geschmackloseste Top-Ten-Musik der achtziger Jahre schuldig gemacht haben?
Das sähe Justin Vernon kaum ähnlich. Der Amerikaner debütierte 2007 mit einer Sammlung auffallend stiller Folksongs. Das Album For Emma, Forever Ago handelte von einem amerikanischen Outsider, der die Einsamkeit seiner Heimat Wisconsin suchte, um zu sich selbst zurückzukommen. Vernon stieg in den Rang eines Szene-Messias auf, der für sein Publikum die Kunst der Aufrichtigkeit probte.
Das Album wurde ein Underground-Hit. Die Songwriter-Geschichte Justin Vernons erzählte von immer neuen Orten, von Stadt, Land, Flucht. Die Metropole Raleigh (North Carolina) und die Band De Yarmond Edison verließ er, um seine Stimme wieder hören zu können. Der Ausbruch endete in der Jagdhütte seines Vaters. Die Ruhe, sagt Vernon, habe ihn vor den Dämonen gerettet, vor dem Alkohol und dem geringen Selbstwertgefühl. Der Erfolg des Albums For Emma verdankte sich dem intimen Klangbild, das den schwer dechiffrierbaren Texten Vernons eine ästhetische Dimension verlieh und den Künstler in die große, weite Welt des Pop spülte. Sein Song Flume wurde von Peter Gabriel gecovert. Seit vergangenem Jahr ziert Vernons brüchiges Falsett Beiträge des Hip-Hop-Moguls Kanye West.
Was andere als Stationen der Popstarwerdung notierten, bleibt Justin Vernon suspekt. Er tritt auch mit seinen neuen Liedern aus bekannten Erklärungsmustern heraus. Aufgenommen hat er in einer zum Tonstudio umgebauten Tierklinik in seinem Heimatkaff Eau Claire, mit einer kompletten Band. Der Relaunch des Projektes Bon Iver ist geglückt, die Zuschreibungen wollen nicht funktionieren, die realen und die verfremdeten Orte in den Songtiteln sind eher Stationen einer weiteren Distanzierung. Perth, Minnesota, Wash. (für Washington), Calgary, Lisbon und Michicant bieten sich als Metaphern für Gefühlslagen an, als Google-Earth-Dokumente einer fiktionalen Oberfläche, hinter der sich durchweg schöne Räume auftun. Es muss eben gut klingen.
In den mehrfach überlagerten Gesängen, verschleppten Pedal-Steel-Gitarren der kunstvoll gebauten „Towers“ und dem R’n’B-Folk-Zwitter Michicant darf der Hörer ferne Echos amerikanischer Folklore entdecken, die ihn jetzt in sanfter digitaler Manipulation umgarnen. Und mit dem Song Beth/Rest hat Vernon einen Punkt besetzt, der auf keiner Landkarte zu finden ist: Der Phil-Collins-Sound dient ihm als vorerst letzte Zuflucht vor der Vereinnahmung. Das kurze Glück, dort zu sein, wo niemand dich erwartet.
„Bon Iver“ ist erscheinen bei 4AD/Beggars.
Aus der ZEIT Nr. 28/2011