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Herren clubben

 

Martin Gore ist Musiker bei Depeche Mode. Vince Clark war es. Jetzt starten beide das Techno-Projekt VCMG, das an die neunziger Jahre in Berlin erinnert.

© Travis Shinn

Letztens holte sich Harald Schmidt den berüchtigtsten Techno-Club der Welt ins Fernsehstudio und ließ sich aufklären, wie es so zugeht im Berghain, über die Sache mit den harten Drogen und dem harten Sex. Der Berliner Diskothek in persona einen Besuch abzustatten kam für den Spötter Schmidt nicht infrage.

Warum eigentlich nicht? Schmidt ist zwar 54 Jahre alt, aber viel jünger sind Vince Clarke, 51, und Martin L. Gore, 50, auch nicht. Trotzdem kann man sich gut vorstellen, wie die beiden auf der Kanzel im Berghain hinter den Plattenspielern stehen. Ssss, das erste Album ihres gemeinsamen Projekts VCMG, wartet mit trockenen Rhythmen aus elektronischen Schaltkreisen auf, die perfekt in den Techno-Tempel passen würden.

Überraschend ist das deshalb, weil weder der eine noch der andere mit solch geradliniger Tanzbodenbeschallung auffällig geworden ist. Überraschend auch, dass die beiden überhaupt zusammen Musik machen: Gore ist der aktuelle Kopf von Depeche Mode, Clarke war es vor langer Zeit einmal und produzierte danach mit Yazoo, The Assembly oder Erasure Hits am Fließband. Beide haben sich als Pioniere um die Einführung des Synthesizers in die Popmusik verdient gemacht, beide haben ihr ganzes Schaffen lang immer auf die Radio-Charts geschielt – und beide haben sich, seit Clarke vor genau 31 Jahren Depeche Mode ohne jede Erklärung verließ, sehr erfolgreich ignoriert.

Die seitdem bestehende, auf Gegenseitigkeit beruhende Missachtung haben sie auch für Ssss nur bedingt aufgegeben. Kein einziges Mal sind sie sich während der Produktion des Albums begegnet. Gore lebt in Los Angeles, Clarke bei New York, die Tracks fanden ihren Weg zwischen Ost- und Westküste übers Internet. Interviews geben sie nur getrennt, und in denen wird dann enthüllt, dass sie sich nicht einmal darüber ausgetauscht haben, warum Clarke damals die Brocken hinschmiss. So zeitgemäß aber diese Arbeitsweise sein mag, so traditionell, fast archaisch sind die Stücke von Ssss.

Es sind Techno-Stücke mit einer schnörkellosen Bassdrum und wenigen Soundeffekten, mit stahlblauer Atmosphäre und ohne jeden Schnickschnack. Tracks, wie sie auch schon Anfang der neunziger Jahre durch die Katakomben unter dem noch unbebauten Potsdamer Platz hätten wummern können. Man hört, dass Techno längst erwachsen geworden ist. Ssss ist eine sentimentale Erinnerung an Zeiten, in denen die Sorge von Harald Schmidt noch eine Berechtigung hatte.

„Ssss“ von VCMG ist erschienen bei Mute/GoodToGo


Aus der ZEIT Nr.12/2012