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Zwei mit dem Willen zur Merkwürdigkeit

 

Aus dem Herzen des Stuttgarter Spießbürgersinns kommt ein Herzensduo, das den alten Songwriterpop doch irgendwie neu klingen lässt: Sea + Air, sehr gediegen!

© Tim Dobrovolny

Zerbrechlichkeit ist die neue Härte, Angriffsfläche der neue Panzer, Sensibilität ist das neue Ding. Singer-Songwriter, Neofolkbands und moderne Chansonniers wetteifern allerorten um die Stärke von Empfindung, Tiefgang, Melancholie in ihrem inneren Kind. Lange Zauselbärte und Omas Kittelhemdblusen sind dabei längst kein Ausdruck mehr von kerniger Schlamperei oder rührigem Spießbürgersinn, sondern Statements der Schönheitsverweigerung nach tradierten Schönheitskriterien. Denn überhaupt: Die Schönheit! Wer sie noch immer über die Norm wohlgeformter Katalogästhetik definiert, muss sich in Kreuzberg wohl die Augen zuhalten.

Thom Yorke trägt das Singersongwriterneofolkchansongenom stets im inneren wie äußeren Kind und klingt dabei bis heute schwer nach Requiem. Da ist es kein Wunder, wenn der wachshäutige Radiohead-Sänger den Musikempathen nachfolgender Generationen als Vorbild dient. Anders lässt es sich kaum erklären, dass Daniel Benjamin und seine Frau Eleni nach fast 1.000 Konzerten in aller Welt auf vielen Stücken ihres lang ersehnten Debütalbums an Thom Yorke erinnern. So ein Vergleich könnte nun despektierlich gemeint sein, wie ein Vorwurf des Plagiats von einer der bedeutendsten Popbands überhaupt. Das ist er nicht. Im Gegenteil.

Denn Sea + Air, angeblich ein echtes Ehepaar aus dem Herzen rührigen Spießbürgersinns (Stuttgart), offenbaren uns auf ihrer epischen Platte My Heart’s Sick Chord die traumwandlerischste Musik seit der Quintessenz melancholisch empfindsamen Tiefgangs namens OK Computer, Radioheads Durchbruch zur Superband 1997. Dass dieses deutsche Duo allerdings nicht in Ehrfurcht erstarrt, dass es trotz aller Avancen eigen klingt und besonders, liegt am unbedingten Willen zur Merkwürdigkeit. Womit wir wieder bei der Schönheit wären.

Sea + Air schreiben sich nicht nur maniriert, doch keinesfalls aufdringlich SEΛ + ΛIR, sie pflegen auch sonst den Gestus des unauffälligen Posings, einer zauberhaften Art subkutaner Oberflächenliebe. Davon zeugt nicht allein ihr Dresscode spröder Prokuristenbekleidung, auch nicht ihre dictionaryenglisch verschrobenen Texte oder der im Konzert zelebrierte Multiinstrumentalismus, sondern mehr noch ein Cembalo, das viele der 13 schwermütig tänzelnden Lieder durchspinnt und ihnen sehr bewusst eine barocke Note verleiht.

Sea + Airs artifizielle Mixtur lässt als Tour-Support von Whitney Houston oder den White Stripes schon mal ganze Arenen in Ehrfurcht erstarren und dient Filmen von Michael Verhoeven als Soundtrack. Sie schwelgt in elegischen Falsettflächen wie Take Me For a Ride zum Auftakt, die radiotaugliche Singleauskopplung Do Animals Cry in der Mitte und eine entrückte Mollballade namens 1st Life am Ende gleichermaßen. Vor allem aber hilft sie dem Hörer, sich all der Möglichkeiten gediegener Popmusik aufs Neue bewusst zu werden. Sea + Air, pardon: SEΛ + ΛIR sind darin nicht nur das Grazilste seit Radioheads Anfangstagen, sie bleiben ganz sie selbst. Und ausgesprochen wunderbar.

„My Heart’s Sick Chord“ von SEΛ + ΛIR ist erschienen bei RAR/Motor Entertainment.