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Wie Joy Division auf Kamillentee

 

„Fade To Grey“ wird wohl ewig auf den Best-Of-Eighties-Alben dudeln. Nach 29 Jahren Pause kehren Visage nun zurück: Es ist nur ein schmaler Grat zwischen Selbstzitat und Selbstverrat.

© Blitz Club
© Blitz Club

Die Reunion hat ihre Mystik längst eingebüßt. Was haben wir schon alles gesehen und gehört: In den vergangenen Jahren wurden zahllose Bands reanimiert, deren Mitglieder sich zuvor Tod und Teufel an den Hals gewünscht hatten. Black Sabbath gehen wieder auf Tour, Blur und die Pixies, die Eagles und Take That, ja selbst die Sex Pistols standen zu einem ihrer Jubiläen plötzlich wieder gemeinsam auf der Bühne.

Und nun Visage, Engländer mit französischem Namen. Zusammen mit Spandau Ballet, Ultravox und Duran Duran wurden sie Anfang der Achtziger in die Schublade New Romantics gepackt – vor allem, weil sie sich allesamt drollig kleideten und extravagant frisierten. Nachdem auch die oben genannten längst aus ihren Löchern gekrochen sind, ist es wenig überraschend, dass auch Visage auferstehen. Hearts and Knives beendet einen 29 Jahre währenden Erholungsurlaub.

Im Gegensatz zu den Neuwerken manch vorgenannter Band lohnt es sich, mal reinzuhören. Denn weder schenken Visage den vierten Aufguss aus, noch versuchen sie, die alten Lieder modern aufgepeppt ein weiteres Mal unter die Leute zu bringen. Klingen wie damals, das ist eine Herausforderung. Mit welchen Mitteln? Und nach welchem Damals eigentlich? Und dann der Klotz am Bein: Wer den Namen Visage hört, der denkt an Fade To Grey, ihren einzigen großen Hit aus dem Jahr 1980: „Un homme dans une gare isolée, une valise a ses cotés, des yeux fixes et froids, montre de la peur lorsqu’il se tourne pour se cacher.“ Ein schönes Lied, doch an sich hörten sich Visage immer völlig anders an. Es ist ein schmaler Grat zwischen Selbstzitat und Verrat. Die Band beschreitet ihn mit bemerkenswert wenigen Ausrutschern.

Das heißt vor allem: Visage klingen erkennbar nach Visage – mit all den Charakteristika, die schon vor dreißig Jahren mehr oder weniger liebenswert waren. Immer wieder denkt man: Nein, so macht man das doch heute nicht mehr. Diese märchenonkelhaften Gesangslinien, diese Schluffigkeit. Und diese kontrapunktischen Zwischenrufe, „what?!„. Hier und da wirken Visage wie die verschlafene Ausgabe von New Order – aber auch das ist nur konsequent, schließlich kamen sie einem vor dreißig Jahren schon vor wie Joy Division auf Kamillentee.

Das ganze Album sei auf uraltem Gerät analog eingespielt, heißt es, und an vielen Stellen meint man das deutlich zu hören. Da ist analog nicht einfach ein schickes Distinktionsmerkmal, sondern echtes Handwerk, Arbeit statt Programmierung. Und verlernt haben Visage die Bedienung der Synthesizer nicht. Bisweilen – etwa bei Lost in Static – staunt man, was aus diesem alten Gerät doch für ein unerhört zittriges Wummern rauszuholen ist.

Macken hatte der Klang von Visage vor dreißig Jahren schon. Wie damals wünscht man sich hin und wieder Sparsamkeit: Der stellenweise doch recht stumpfe Wummerbeat, naja. Und dann diese Gitarre! Wenn sie singt und führt, hört man gern hin, bei Hidden Sign etwa. Wenn sie im Hintergrund kreischend Arabesken hinwurschtelt, tja, dann eher nicht.

Mit Ausnahme der ersten beiden Lieder ist Hearts and Knives immerhin gelungen. Und sofort hört man die Visage-Epigonen durch. Getragene Popmelodien mit stetem Diskobeat verklebt, das hatten später etwa die Lightning Seeds (auch schon einmal aufgelöst und wiedervereinigt) perfektioniert, ja, ganze Horden englischer Elektropopbands der Neunziger hallen nach. Aber kann man Visage das vorwerfen?

Die Mystik der Wiedervereinigung ist also dahin, sei’s drum. Wenn sie so schön aus der Zeit gefallen klingt wie hier, ist ihr auch der Schrecken genommen. Und wer weiß, was noch kommt. Wunderbar verschmalzte Elektroexperimente von Roxy Music? Eine Welttournee der Smiths? Wenn sie nicht gestorben sind … ist mit allem zu rechnen.

„Hearts and Knives“ von Visage ist erschienen bei Blitz Club.