Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Hardcore für Feinmotoriker

 

Diese Band ist so kaputt, dass sie Fucked Up heißen muss. Kaum jemand spielt Hardcore-Punk so progressiv wie sie. Dafür zahlen die Kanadier einen hohen Preis.

© Brendan George Ko
© Brendan George Ko

Fucked Up sind eine kaputte Band. Ihr Frontmann Damian Abraham hasst das Leben auf Tour, vermutlich weil er den Leuten Abend für Abend eine grandiose Show als blutiger, schwabbelnder Schweißball liefert. Abraham und der Gitarrist Mike Haliechuk sind die treibenden Kräfte hinter Fucked Up, sie haben einander aber nicht mehr viel zu sagen. Der Lauf des Lebens und das ewige Ringen um die Richtung ihrer Band haben die ehemals besten Freunde zu distanzierten Arbeitskollegen gemacht. Wenn Fucked Up ein Album aufnehmen, geht beinahe jedes Mitglied in ein anderes Studio.

Fucked Up zahlen einen hohen Preis für das, was sie sind: eine der progressivsten Hardcore-Punkbands der Zeit. Das gilt selbst, wenn sie ein vergleichsweise genügsames Album wie Glass Boys veröffentlichen. Die vierte Platte versammelt zehn Songs in 43 handlichen Minuten, sie kommt als erstes Album der Band ohne übergreifendes Thema aus. Trotzdem steckt sie voller Regelbrüche und Anmaßungen, Orgeln, Akustikgitarren, melodischer Zwischen- und Glockenspiele. Fucked Up haben ein interessantes Problem: Sie können sich nicht entscheiden, ob sie Sonic Youth oder Sick Of It All sein wollen.


Nach ihrer 2011er Platte David Comes To Life blieb Fucked Up nichts anderes mehr übrig, als die Einsätze zu verringern. In einer 77-minütigen Rockoper erzählten sie die Geschichte eines Terroristen-Pärchens im England der Thatcher-Jahre, drei verschiedene Blickwinkel kämpften um die Deutungshoheit. Es ging nicht nur um eine ambitionierte Geschichte, sondern auch um die Schwierigkeit, eine ambitionierte Geschichte zu erzählen, eine ambitionierte Band zu sein. Nach David Comes To Life war die Auflösung von Fucked Up eigentlich schon beschlossene Sache.

Stattdessen zeigt sich: Fucked Up sind inzwischen so viele verschiedene Bands, dass sie überhaupt keine Auflösung mehr beschließen können. Man könnte ihnen den Kopf abschlagen, dann würden mindestens zwei neue nachwachsen. Der Kampf muss weitergehen, und so reiben sich auf Glass Boys eine Hardcore-Punk-, eine Art-Rock- und manchmal sogar eine Popband aneinander auf. Das Resultat ist ein tänzelndes Nashorn von einer Platte.

Handelte David Comes To Life noch auf der Metaebene von seinen Schöpfern, ist Glass Boys ein offenkundiges Fucked-Up-Album über Fucked Up. Abraham und Haliechuk schreiben darüber, was es bedeutet, mit der eigenen Band zu altern, wie sich Geld, Erfolg und alte Punk-Ideale vertragen und was das alles nützt, wenn am Ende ein zwischenmenschlicher Scherbenhaufen dabei herauskommt. Das tun sie eloquent und sogar mit einer gewissen Eleganz: Als Hardcore-Album für Feinmotoriker widerspricht Glass Boys dem Vorurteil, die Musik des Genres sei prinzipiell für stumpfe Gemüter bestimmt.

Nicht zuletzt beweist Glass Boys, wie zugänglich und unterhaltsam die Songs einer Band sein können, in der seit Jahren Gesinnungskämpfe toben. Abrahams Gebrüll wird sensiblere Hörer weiterhin verschrecken – unter Menschen mit Herz für harte Gitarren dürften Fucked Up jedoch selbst die einzigen sein, die keinen Spaß an dieser Musik haben. Eine Laune des Schicksals: Die Band hat das Monster erschaffen, aber zähmen kann sie es schon lange nicht mehr.

„Glass Boys“ von Fucked Up ist erschienen bei Matador/Beggars/Indigo.