Jack White ist Blues-Bewahrer, Gitarrengott und menschliches Fragezeichen. Auf seinem zweiten Soloalbum „Lazaretto“ verschwindet die Musik hinter dem Mythos.
Jack White ist nicht das letzte Rätsel der Rockmusik. Er ist nicht einmal das größte Rätsel in seiner eigenen Ex-Band. White aber genießt die Selbstinszenierung und -verklärung wie kein anderer Rockmusiker. Doch obwohl er sein Leben unter Beobachtung der Öffentlichkeit verbringt, weiß man wenig Konkretes über ihn. Die angeblich gesicherten Informationen klingen oft weniger glaubwürdig als die unbestätigten Gerüchte, die sich um seine Person ranken.
Mit seinem Label Third Man und dem angeschlossenen Tonstudio, Vinyl-Presswerk und Plattenladen hat White in Nashville ein multimediales Graceland für Plattensammler aus dem Boden gestampft. Pausenlos produziert die Firma neue Musik und Fanartikel. Schallplatten erscheinen häufig in ausgefallenen Editionen, die dem Medium nach 130 Jahren noch immer neue Aspekte abgewinnen.
Auch von Whites zweitem Soloalbum Lazaretto gibt es eine Sonderedition, die man in drei Geschwindigkeiten und von innen nach außen abspielen kann. Je nachdem, wo man die Nadel aufsetzt, erklingt der Song Just One Drink mit akustischem oder elektrischem Intro. Der Künstler Tristan Duke hat die A-Seite der Schallplatte so behandelt, dass beim Abspielen das Hologramm eines Engels erscheint. All das ist wesentlich spannender als die Musik auf Lazaretto.
Wie schon die zweiten Alben seiner Bands The Raconteurs und The Dead Weather zeugt Lazaretto von einem Dilemma, von dem nur die White Stripes verschont blieben: Das zweite Album eines Jack-White-Projekts ist in der Regel weit weniger aufregend als das erste. Während sich White jedoch bei den Gruppen in selbst gewählten Nebenrollen unterforderte, verliert er diesmal den Überblick in seiner Inszenierung als Rock’n’Roll-Mysterium. Er kann sich das erlauben, weil er das Publikum mit seiner Exzentrik bei Laune hält. Früher waren es seine Songs, die es ihm erlaubten, exzentrisch zu sein.
Auf Lazaretto sind diese Songs weiterhin unverkennbar: Garagen-, Blues- und Folkrock, gut informiert in den jeweiligen Genres, aufgenommen mit einer Luxusbesetzung, die sich heute kaum noch eine Band leisten kann. Die hoch dekorierten Musiker hetzen durch ein entsprechendes Hochleistungsalbum, aber sie spielen mehr gegen- als miteinander. Lazaretto ist voller Soli, Licks und sonstiger Fingerübungen, scheitert aber an einer sinnvollen Verbindung der Einzelteile. Es ist viel Musik und sehr wenig Song.
Erschwerend kommt hinzu, dass White die weniger einladenden Eigenschaften seiner Rockstar-Persona hervorhebt. Lazaretto beginnt mit einem Loblied auf seinen im 40. Lebensjahr weiterhin ungebrochenen Sexualtrieb. Three Women gibt Auskunft über die Haarfarben der Protagonistinnen, beruft sich anschließend auf die Schweigepflicht eines Gentleman und ist auch sonst ziemlich beknackt. Während Whites Solodebüt Blunderbuss noch mit klugen Gedanken zu Frauen, Männern und ihrer Vereinbarkeit überraschte, packt Lazaretto das Thema mit eher höhlenmenschlichem Eifer an.
Skeptiker bezeichnen White seit jeher als charakterlosen Led-Zeppelin-Epigonen. Obwohl Lazaretto zu seinen schwächeren Alben gehört, räumt es mit dieser Annahme auf: Die Unnahbarkeit der Selbstdarstellung, die Dekadenz, der Frauenverschleiß und die pompöse Kostümierung – all das erinnert viel mehr an Elvis Presleys Zeit in Las Vegas. Whites Graceland steht in einer anderen Ecke von Tennessee und bedient eine andere Art von Nerd. Ausmalen kann man sich trotzdem, wie in 100 Jahren die Doppelgänger von Jack White um die Welt tingeln und unseren Urenkeln auf die Nerven gehen werden.
„Lazaretto“ von Jack White erscheint am 6. Juni bei XL Recordings/Beggars/Indigo.