100 Jahre Sun Ra! Von seinen Auftritten zehrt die afroamerikanische Popkultur bis heute. Eine Kompilation versammelt den besten außerirdischen Jazz der Welt.
Sun Ra war der Sonnengott unter den Jazzvisionären, ein Heiland from outer space, der, wie er verkündete, vom Saturn zur Erde gekommen sei. Von den späten Fünfzigern an reiste er mit seinem Arkestra durch die Welt, um interplanetarische Botschaften zu verbreiten: „Have you heard the latest news from Neptune?“ Ein Spinner, sagten die einen. Ein Genie, die anderen. Fernab anderer Szenen kreiste er in seinem ureigenen Afro-Big-Band-Free-Jazz-Kosmos.
Sein Einfluss war enorm. Sun Ra inspirierte Jazzer, Funk-Futuristen und Techno-Pioniere, heute zitiert ihn Lady Gaga. Im Ohr aber haben ihn nur wenige. Obwohl sein Œuvre nicht mehr nur in selbst gepressten Kleinstauflagen kursiert, gilt er als ein Fall für Eingeweihte. Sogar Interessierten sinkt der Mut beim Blick auf die Diskografie, die weit mehr als 100 Titel nennt.
In the Orbit of Ra weist nun, zum 100. Geburtstag, einen Weg. Kuratiert hat die Werkschau ein Mitstreiter aus dem innersten Zirkel des Arkestra, der 90 Jahre alte Saxofonist Marshall Allen, der die Truppe leitet, seit Ra 1993 den Planeten verlassen hat.
Die frühen Aufnahmen bezeugen noch Sun Ras Wurzeln im Swing. Im Chicago der vierziger Jahre spielte er in der Band Fletcher Hendersons, damals unter seinem „Sklavennamen“ Herman Poole Blount. Den legte er 1952 ab. Aufgewachsen im rassistischen Süden der USA und mehrere Jahre wegen Kriegsdienstverweigerung im Gefängnis, erfand er sich als Außerirdischen neu: eine Maskerade, die zugleich Fremdheitserfahrungen ausdrückte und einen Ausweg bot.
Space wurde im Schaffen Sun Ras zur Großmetapher für ein schwarzes Utopia, zum Schlüsselbegriff einer stolzen afrofuturistischen Gegenerzählung. Seine Musik entwickelte sich fort von der Jazztradition, hin zu einer im Kollektiv improvisierten, bezaubernd schrägen out of this world music mit Chants und polyrhythmischen Grooves, exotischen Harmonien und elektronischen Effekten; seine Auftritte in ägyptisch anmutenden Sci-Fi-Kostümen verwandelten jede Konzerthalle in einen Tempel seiner Befreiungsmythologie.
Von deren Bilderschatz zehrt die afroamerikanische Popkultur bis heute. Dass auch die Klangkunst des großen Außenseiters nicht nur etwas für Insider ist, macht Allens Zusammenstellung hörbar, indem sie behutsam vom Eingängigen zum Freien führt. Sun Ras Kompositionen mögen fordernd sein. Diese Kompilation zeigt, wie verführerisch sie sind: betörende Avantgarde.
„In the Orbit of Ra“ von Marshall Allen presents Sun Ra and his Arkestra ist erschienen bie Strut Records.
Aus der ZEIT Nr. 41/2014