Wo hört der Mensch auf, wo beginnt die Maschine? Der junge venezolanische Produzent Arca macht nervenaufreibende Laptop-Musik. Und entfernt sich selbst aus ihr.
Je weiter sich Alejandro Ghersi vom Mainstream entfernt, desto entschlossener scheinen ihm dessen aufmerksamste Vertreter hinterherzulaufen. Als sich das Management von Kanye West an den venezolanischen Produzenten wandte und um die Einsendung einiger Arbeitsproben bat, schickte Ghersi die verrückteste Musik zurück, die er bis zu diesem Zeitpunkt unter seinem Künstlernamen Arca komponiert hatte. Kurz darauf gehörte er zu den 26 Produzenten, die mehr oder weniger maßgeblich an der Fertigstellung von Wests jüngstem Album Yeezus beteiligt waren.
Auch FKA Twigs hat etwas erkannt in den fremdartigen Tracks von Arca und gemeinsam mit ihm den umgekrempelten R ’n‘ B ihres diesjährigen Debütalbums entworfen. Verglichen mit Arcas‘ eigenem Debüt klingt dieses allerdings wie die gewöhnlichste Musik der Welt. Auf Xen verschmilzt Ghersi so vollständig mit seinen Maschinen, dass sich kaum noch sagen lässt, wo der Mensch aufhört und die Technik beginnt. Dabei entsteht Unerhörtes im besten Sinn – Geräusche, wie sie die Welt noch nicht gehört hat.
Natürlich gibt es Vorläufer für den Arca-Sound: die detailfreudig konstruierten und texturierten Tracks von Aphex Twin und vieles, was dessen Weggefährten bei Warp Records um die Jahrtausendwende verdrahtet haben. Arca greift die sogenannte Intelligent Dance Music auf und verkehrt sie in ihr Gegenteil: Tanzen kann man nicht mehr zu einem Stück wie Thievery, das mit Breakbeat, unkenntlich gemachtem Stimmgewirr und blechernen Synthie-Fanfaren gegen sich selbst in die Schlacht zieht. Aber Zucken, Schlottern, Zittern sind ja auch schöne Bewegungen.
Dabei ist Thievery eine Ausnahmeerscheinung. Nachdem die Beschäftigung mit der menschlichen Stimme und den Möglichkeiten ihrer Verformung noch Kennzeichen früher Arca-Tracks war, ist Xen ein überwiegend sprachloses Album geworden. Der Konflikt im Zentrum dieser Musik wird dadurch umso deutlicher betont: Das Equipment spuckt im Verlauf der Platte immer grellere Geräusche aus, der Mensch steht eigentlich nur im Weg. Es scheint, als arbeite Arca daran, sich selbst aus seiner Musik zu entfernen.
Wie eine Welt klingen könnte, in der niemand mehr die Maschinen überwacht, lässt die düstere zweite Hälfte von Xen erahnen. In sprung- und bruchstückhaften Tracks, die es selten über die Drei-Minuten-Marke schaffen, reihen sich verbogene Sounds und angedeutete Beats aneinander. Ein verstimmtes Klavier spielt kurz dazwischen, Streicher steigen über Wound auf wie ein Stechmückenschwarm. All das ist zweifelsohne faszinierend anzuhören, aber nur schwer zu greifen. Meistens fallen Arcas Stücke auseinander, bevor man sich einen Reim auf sie machen kann.
Wer hinter die Geheimnisse seiner menschenabweisenden Musik kommen will, muss sich mit der Biografie von Alejandro Ghersi vertraut machen. Der 24-jährige ist in einer Gated Community in der venezolanischen Hauptstadt Caracas aufgewachsen. Als schwuler Teenager, für den ein Coming-out lange Zeit undenkbar war, fühlte er sich dort tatsächlich eher eingesperrt als behütet. Ghersi durchlebte Phasen, in denen er beinahe jeden Kontakt mit anderen Menschen vermied.
Auf Xen, dessen Tracks evokative Titel wie Lonely Thug oder Sad Bitch tragen, sind heute noch Echos aus dieser Zeit zu hören. Arca hat ein Rückzugsalbum gemacht, das keine Texte braucht, um seine Botschaft der Widerborstigkeit zu vermitteln. Trotzdem scheint das halbe Pop-Establishment einen Ruf zu den Waffen in Arcas Musik zu hören: Fast alle reißen sich derzeit um den schmächtigen Produzenten. Es ist also gut, dass er inzwischen gar nicht mehr so menschenscheu sein soll. Selbst eine Session mit Björk hat Arca vor Kurzem erfolgreich über die Bühne gebracht.
„Xen“ von Arca ist erschienen bei Mute Artists/GoodToGo.