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Songs aus dem unheimlichen Tal

 

Die Wärme der Roboter: Allie aus Ostwestfalen macht auf seinem dritten Album Folkpop von seltsamer Schönheit. Wie kann Lagerfeuermusik so synthetisch klingen?

© Clouds Hill
© Clouds Hill

Es gibt Musik, die ist transparent wie dünnes Glas und klingt mindestens genauso zerbrechlich. Dennoch dringt man kaum hinein, geschweige denn hindurch – weder mit den Ohren noch mit dem Verstand. Allie macht solche Musik.

Der Singer/Songwriter aus dem ostwestfälischen Zonenrandgebiet metropolitaner Popkultur mit Wahlwohnsitz in dessen Heartland (Berlin) komponiert nun schon auf seinem dritten Album so derart dünnhäutige Klänge, dass man sie beim kleinsten Nebengeräusch überhören könnte, dass sie sich wie Esspapier auf die Zunge legen und von allein wegzuschmelzen scheinen. Und trotzdem türmen sich die elf neuen Stücke einer hohen schwarzen Mauer gleich vor allen Sinnen auf. Kein Durchkommen, nirgends. Alles zu sperrig, zu vertrackt, zu flüchtig. Man könnte auch sagen: zu schön um wahr zu sein.

Womit wir beim Titel wären. Uncanny Valley, unheimliches Tal, heißt das aktuelle Album. Der Solokünstler hat es aufgenommen mit etwas Schlagzeugbegleitung und ein paar digitalen Soundeffekten ringsum. Der Begriff aus der Robotik beschreibt die These, dass kybernetische Wesen oder deren Animationen am Bildschirm, sofern sie nicht perfekt der menschlichen Physiognomie gleichen, ein Gefühl von Abwehr beim Betrachter erzeugen.

So in etwa könnte man auch beim Hören von Allies Uncanny Valley empfinden. Die Lieder mögen klingen wie gitarrenbasiertes Singer/Songwriting mit englischen Texten im amerikanischen Folk-Gestus – als Komposition wirkt das Ganze so anämisch, irisierend, so ungreifbar und seltsam amorph, dass einen unwillkürlich ein Gefühl artifizieller Unterwanderung beschleicht. Als werde hier tradierte Lagerfeuermusik am Computer erzeugt. Oder Synthesizersound auf der Wandergitarre. Je nach Perspektive.

Klingt verwirrend? Ist verwirrend! Man kriegt Allie nie zu fassen, an keiner Silbe, in keinem Takt kann man ihn packen. Seine Stimme flottiert frei zwischen androgynem Flüstern und runtergepitchtem Sopran, die Worte entbehren oft jedes tieferen Zusammenhangs und gewinnen vermutlich gerade dadurch einen Sinn, den bloß niemand außer Allie begreift.

Die Rhythmik darunter wirkt bisweilen so gedimmt, als käme sie als Echo aus dem Weltraum. Auch die Instrumentierung verschwindet, denn ob da Saiteninstrumente im Spiel sind oder doch bloß deren Gleichnisse, dass kann nur ermessen, wer Allie live hört. Und wenn Tracks wie Try To Hold Her Hand One Day plötzlich richtigen Popappeal entwickeln, drosseln sie ihn sofort wieder, als schämte sich jemand für seine Chuzpe.

Diese Musik, so scheint es, existiert gar nicht. Sie verweht im Gehirn wie ein Windhauch im Wald. Umso erstaunlicher, dass sich Uncanny Valley ins Gemüt hakt wie ein Klettverschluss und erst loslässt, wenn man den Lautstärkeregler runterreißt. Doch sogar dann noch hallt dieser stille, ereignislose Sound unendlich lang nach im Kopf und treibt dort sein Spiel aus Assoziationen, die ins Nichts führen.

Macht nichts – im Reizgewitter unserer Zeit ist ein bisschen Ratlosigkeit mit schönen Tönen ganz erholsam. Vermutlich versteht Allie selbst nicht, warum seine Alben so glücklich machen.

„Uncanny Valley“ von Allie ist erschienen bei Clouds Hill.