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Pop ganz ohne Pop

 

Die singende DJane Miss Kittin flottiert zwischen Amanda Lear, Donna Summer oder Kraftwerk. Ihr vielschichtiger Wavehouse klingt technoid und handgemacht zugleich.

© Phrank
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Wer Amanda Lear nicht kennt, ist entweder spät geboren oder früh vom Mainstream abgebogen. Wer sich an sie erinnert, muss mit offenen Ohren durch die siebziger Jahre gelaufen sein. Seinerzeit war Salvador Dalís androgyner Muse kaum zu entgehen. Trübsinnig kroch ihre maskuline Schmusestimme wie Bodennebel über die Tanzflure der Welt. Follow Me hauchte sie 1978 und bereitete dem New Wave einen düsteren Empfang in der zwangsfröhlichen Disco.

Seltsamerweise war Amanda Lear nie weg vom Fenster, sondern macht auch mit 73 fleißig Platten. Doch selbst, wenn sie sich zurückgezogen hätte: Es gäbe adäquaten Ersatz. Der heißt Caroline Hervé und ist bekannt als singende DJane unter dem Pseudonym Miss Kittin. Auch auf ihrem aktuellen Album klingt sie, als hätte die lebende Legende Lear ein neues Kapitel aufgeschlagen. Das könnte nun als despektierlich missverstanden werden, doch weit gefehlt: Ihrer amandahaften Stimme, den englischen Texten zu technoiden Tönen kann die Französin einen Teil ihres Erfolgs verdanken.

Warum das so ist, warum sie die Bühnen riesiger Technofestivals besteigen darf, unterstützt von den Großkünstlern der Szene – davon zeugt ihr Album Calling From The Stars, mehr noch als die 14 Platten in zwölf Jahren zuvor. Elektronischer Wavehouse in vielschichtiger, epochaler Form. Das Doppelalbum bietet das volle Repertoire, in dem sich digital erzeugte Klänge ausbreiten können, wenn sie sich ihrer Wurzeln bewusst werden: Die erste Seite flottiert 13 Tracks lang ziemlich nostalgisch zwischen Donna Summer, Kraftwerk und Anne Clark, die zweite verbindet dieses Konvolut mit einer Art Retroambient, der modernen Ohren zu minimalistisch sein dürfte und zu rückwärtig mit seinen Neunzigergedächtnistiteln zwischen Cosmic Love und Sunset Mission. Doch Miss Kittins unterkühlter Sprechgesang, ihr Gespür für pointierte Effekte und rücksichtsvolle Samples, führt beide Ebenen etwas Neuem, neu Verwertbarem zu.

Man kann das sehr gut in Bassline erkunden, der Single von Platte 1. Ohne je in trivialen Pop zu verfallen, treibt sie mit stilisiertem Klatschen, künstlichem Klavier, all der Synthiespielerei ruhig und doch dynamisch dem Ziel entgegen: fast heimlich zum Tanze drängend, nicht mit zappelnden Beats und wummerndem Bass, sondern mit der Kraft einer Melodie, die von echtem Gesang verkittet wird. So technoid das auch klingt, ist es eben doch mehr als das. Calling From The Stars mag strikt der Mixkultur entspringen; doch wie Miss Kittins erster kleiner EP-Hit 1982 anno 1998 glimmt darin eine warme Flamme handgefertigter Musik, die von echten Instrumenten zu kommen scheint, nicht von der Festplatte.

Ob Miss Kittin das überhaupt will, dieses Fenster offenhalten? Keine Ahnung. Aber sie klingt ja manchmal auch wie Amanda Lear, ohne es zu wollen, und es klingt toll. Wirkung ist nicht immer eine Folge des Willens, sondern des Könnens. Und Miss Kittin kann mit ihren Mitteln fast alles, sogar Popplatten ganz ohne Pop. Follow her!

„Calling From The Stars“ von Miss Kittin ist erschienen bei Wagram.