Der Schein bestimmt das Bewusstsein: Die 67-jährige Cher ist wieder da. Selten war ein Album weiter von der optischen und akustischen Wahrheit entfernt als „Closer To The Truth“.
Christina Aguilera, so wird es immer wieder gern kolportiert, verkündete einst, sie würde sogar das Wasser trinken, das Cher in der Badewanne hinterlassen habe. Man kann über Geschmack bekanntlich streiten, aber – so viel ist sicher – von Musik war damals nicht die Rede. Denn ob Christina Aguilera mit ähnlicher Begeisterung wie den Abfluss ihrer Heldin auch deren neues Album genießen wird, darf dann doch bezweifelt werden.
Denn Closer To The Truth, mit dem eine scheinbar ewig junge Cher an alte Erfolge anknüpfen will, ist eine echte Prüfung. Oder besser gesagt: zwei Prüfungen. Denn das Album zerfällt musikalisch in zwei Teile. In der ersten Hälfte bugsiert uns Cher auf die Tanzfläche einer Dorfdisse, in der zweiten kuschelt sie mit uns am Kamin.
Hier wie dort beweist die mittlerweile 67-jährige Cherilyn Sarkisian, dass ihr nicht nur jedes Mittel recht ist, um dem Alter ein Schnippchen zu schlagen, sondern sie auch in ihrer Musik auf keine technisch machbare Schönheitsoperation verzichten möchte. Allerdings: So aufgebretzelt mit durchgehend donnernden Beats, alarmierenden Synthie-Flächen und jubilierenden Feuerwehr-Melodien die Tracks der Dancefloor-Hälfte auch sein mögen, letztlich klingen sie dann doch recht altbacken – nämlich genau so wie Believe, jener Comeback-Hit von Cher aus dem Jahre 1998. Das ist kein Wunder, denn die meisten Tracks hat wieder Mark Taylor produziert, der auch damals an den Reglern stand.
Den Autotune-Effekt, der mit Believe Premiere feierte und mittlerweile allgegenwärtig geworden ist, setzen Taylor und die weiteren Produzenten, die für Closer To The Truth verpflichtet wurden, zwar vergleichsweise sparsam ein. Ansonsten aber orientieren sie sich in der ersten Hälfte am Eurodance aus den späten achtziger Jahre, auf den schon Believe Bezug genommen hatte, also auf jenes eintönige, aber effektive Geboller, das in Dorfdiskotheken die Landbevölkerung beiderlei Geschlechts im 4/4-Takt zueinander finden lässt. „You can be my love„, singt Cher dazu und nimmt dann schließlich das Tempo raus. Es folgt die zweite Hälfte aus so klassischen wie vorhersehbaren, mit feisten Streichern ausgepolsterten oder wahlweise mit Breitwandgitarren herausgeputzte Balladen, während derer sich die frisch gebackenen Paare tief in die Augen blicken können.
In Lie To Me enthüllt Cher dann ihr künstlerisches Prinzip: „The truth is overrated„, heißt es da. Tatsächlich kann, darf es nie um die Wahrheit gehen. Sowohl Chers Erscheinungsbild als auch ihre Musik sind immer Spiele mit Illusionen, die möglichst perfekt sein sollen, mit Äußerlichkeiten, die besonders grell blinken. So selbstbewusst sie sich halbnackt und unübersehbar weichgezeichnet auf dem Album-Cover räkelt, so selbstverständlich reduziert sie die Musik auf ihre inhaltsleere, aber dafür umso heller strahlende Hülle. Es ist der schöne Schein, der in diesem Fall das Bewusstsein bestimmt. Es ist das Blendwerk, das zum Werkinhalt verklärt wird. Es ist Badewasser, das angeblich wie Champagner schmecken soll – aber doch Badewasser bleibt.
„Closer To The Truth“ von Cher ist erschienen bei Warner Music.