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Raus aus der Synthieburg

 

Im alltäglichen Leben stößt Cameron Mesirow immer wieder an Grenzen. Auf „Interiors“, dem neuen Album ihres Elektropop-Projekts Glasser, lässt sie keine mehr gelten.

© Jonathan Turner
© Jonathan Turner

Cameron Mesirow leidet an einer leichten Form der Agoraphobie. Sie fühlt sich unwohl auf großen Plätzen und fürchtet den Kontrollverlust. Nicht zuletzt deshalb ist sie nach der Fertigstellung von Ring, ihrem Debütalbum unter dem Namen Glasser, vor drei Jahren aus dem flachen, weitläufigen Los Angeles ins Herz von Manhattan gezogen. Die Häuser dort sind hoch und die Straßenzüge eng, manche Menschen entwickeln inmitten dieser Architektur eine Klaustrophobie. Die zweite Platte von Glasser heißt nun Interiors und wurde in einem kleinen, fensterlosen Studio aufgenommen.

Mesirow aber verkriecht sich nicht in einer Synthieburg oder hinter dem Bildschirm des größten Computers. Interiors strebt nach draußen, will aus der räumlichen und gedanklichen Enge ausbrechen, gegebene Formen auflösen. Das gilt musikalisch wie thematisch: In den zwölf Songs des Albums, die auf kaum absehbaren Wegen zerfließen, singt Mesirow über die Grenzen einer künstlerischen und romantischen Beziehung – ihrer Beziehung zu Van Rivers, dem Koproduzenten von Interiors.


Rivers war vor vier Jahren an den Aufnahmen von Fever Ray beteiligt, dem bisher einzigen Album des gleichnamigen Projekts von Karin Dreijer Andersson. Dass er aus dieser Kollaboration mit Ideen zurückkam, die auf Interiors weiterverfolgt werden, ist eine naheliegende Vermutung: Ähnlich wie Fever Ray und Anderssons Hauptband The Knife bauen Mesirow und Rivers ihre Tracks aus den bekannten Einzelteilen elektronischer Popmusik. Aber sie sortieren Beats, Loops, Synthies und Gesang zu Songs, die sich das Recht auf Abbruch, Neubeginn und abermaligen Abbruch bewahren. Allein das zentrale, mit perkussivem Vorwärtsdrang versehene Keam Theme geht zweimal zu Ende, bevor es seinen tatsächlichen Schluss erreicht.

An diesem Vor und Zurück lässt sich ablesen, wie es Mesirow und Rivers während der Arbeit an Interiors zwischen den Wänden ihres Studios hin- und hergeschleudert haben muss. So wie die Songs des Albums in ihrer Form variieren, verändert sich auch das Verhältnis der Songwriterin zu ihrem Koproduzenten von Stück zu Stück. Mal ist es letzter Rückhalt vor dem drohenden Wahnsinn, mal Machtkampf, einmal sogar traute Zweisamkeit, wenn auch „on a trash pile„, wie Mesirow traumwandelnd singt. Die Belastung durch die Zusammenarbeit muss dabei immer bedacht werden: Interiors fragt auch, ob es sich lohnt, das persönliche Glück für die Kunst aufs Spiel zu setzen.

Das Album gibt darauf keine explizite Antwort, zumindest der Hörer aber ist dankbar für das Opfer der beiden. Glasser gelingt eine seltene Gratwanderung zwischen Theorie und Praxis. Die Gedanken zum Ausbruch aus öffentlichen und privaten, realen und gedanklichen Räumen, die hinter Interiors stecken, bereichern die Platte, ohne ihre Zugänglichkeit zu mindern. Den Auflösungserscheinungen des körperlosen, sterilen Sounds steht die Geschichte von Mesirow und Rivers als schwitzendes, kämpfendes Künstlerpaar gegenüber. Mit etwas Übung kann man zu dieser Architektur sogar tanzen.

„Interiors“ von Glasser ist erschienen bei True Panther/Matador/Beggars.