Die Schweizerin klingt mal wie PJ Harveys Schwester, mal wie Kate Bushs Tochter oder die Wiedergeburt von Dusty Springfield. Doch wo auf ihrem auratischen Album „Neuro“ zeigt sie sich selbst?
Wer ist Anna Aaron? Die einfache Antwort wäre: eine Musikerin, die eigentlich Cécile Meyer heißt, 29 Jahre alt ist, aus der Schweiz stammt und heute ihr zweites Album Neuro herausbringt. Aber was ist schon einfach. Denn da gibt es noch ein paar zusätzliche Antworten: Die kleine Schwester von PJ Harvey. Eine Stevie Nicks ohne bauschenden Chiffonrock. Eine Wiedergeburt von Dusty Springfield. Oder auch: Die verlorene Tochter von Kate Bush.
Anna Aaron kann eine ganze Menge. In Stellarling scheppert die Begleitung, während Aaron mal keift wie eine Seemannsbraut, um pünktlich zum Refrain doch wieder zu säuseln wie eine feine Dame. Durch Linda tuckern schicke elektronische Beats, dazu singt Aaron wie ein sehr verführerischer Eisschrank. Labyrinth wird strukturiert von einem knarzenden Bluesrock-Gitarrenriff. Im anschließenden Sutekina dagegen verwandelt sich fröhlich hingetupfter Pop mit einem niedlichen Handclapping-Rhythmus in ein ätherisches Weltraumgewalle und wieder zurück. Das von einem stumpfen Industrial-Rhythmus getriebene Neurohunger schließlich versinkt im Atonalen. Und für jeden neuen, wieder mal unterschiedlichen Sound legt sich Aaron auch pflichtschuldig neue Stimmfarben an.
Überzeugend und technisch versiert passt sich die in Basel geborene, aber in England, Neuseeland und verschiedenen asiatischen Ländern aufgewachsene Aaron ihrer Umgebung an. Das singende Chamäleon gewann 2011 den Basler Pop-Preis, eine mit stattlichen 15.000 Schweizer Franken dotierte Einrichtung der Nachwuchsförderung. Damals war sie allerdings noch bekannt für eher düstere, von Gitarren dominierte Rockmusik.
Diese Stimmung und die Gitarren sind auch auf Neuro noch zu finden, aber nun hat die Elektronik das Kommando übernommen – passend zum Thema des Albums. Denn nicht nur dessen Titel bezieht sich auf Neuromancer, den bahnbrechenden Science-Fiction-Roman von William Gibson, in dem der amerikanische Autor schon 1984 prophetisch jene virtuellen Welten beschrieb, in denen wir uns heutzutage ganz selbstverständlich bewegen.
In Heathen besingt Aaron digitale Träume, im Videoclip zu Linda posiert sie als Maschinenmensch, der von Fritz Lang in Szene gesetzt sein könnte. Das neue Album, verriet Aaron der Berner Zeitung, sollte klingen wie „ein von innen leuchtendes, goldenes Objekt in einer tiefen, dunklen Umgebung“. Das ist gelungen, Neuro schillert wie ein Diamant, eingefasst von stählerner Elektronik. Nicht jedes Stück wird ein Hit werden, aber jedes Stück umgibt wie selbstverständlich die Aura eines Hits.
Ebenso selbstverständlich singt Aaron in verschiedenen Stimmen, ist mal Soul-Diva, mal Pop-Sternchen, mal Elektro-Chanteuse, manchmal Singer/Songwriterin und selten sogar Rockröhre. Sodass sich nach den zwölf Songs auf Neuro kaum mehr die Frage stellt: Was kann Anna Aaron nicht? Sondern nur: Wer ist sie selbst?
„Neuro“ von Anna Aaron ist erschienen bei Two Gentlemen/Rough Trade. Konzerte: 9.4. Hamburg, 10.4. Osnabrück, 11.4. Berlin, 28.4. Köln, 29.4. Frankfurt, 15.5. München