Wer Haley Bonar nicht verfällt, muss kaltherzig sein. Die wundervolle Folkmusik der Amerikanerin schreit aus den Tiefen des Pop, ohne laut zu werden.
Aus den stillen Ecken des Pop kommen zuweilen erstaunlich laute Töne. Sie klingen zunächst gar nicht so, platzen aber schier vor Kraft. Erinnert sei da an Talk Talk, deren Sänger Mark Hollis zu Beginn der Achtziger aus voller Kehle zu schreien schien, dabei das Gegenteil von Geschrei erzeugte und dennoch bis auf den Grund der Seelen vordrang.
Dies sind die seltenen Momente unscheinbarer Energie, die im Hallraum der Aufmerksamkeit zu verwehen drohen und sich auf sonderbare Weise behaupten. Momente wie bei Haley Bonar.
Die Songwriterin aus Minnesota ist seit vielen Jahren auf Tour. Sie hat in diesen vielen Jahren sogar vergleichsweise viele Platten gemacht. Platten, von denen viele sicher noch nie gehört haben. Und doch ist das, was sie nun auf ihrem ersten Album bei einem einigermaßen zugkräftigen Label – Memphis Industries – kompiliert, in seiner Zurückhaltung ein so durchdringender Schrei aus den Tiefen des Pop, dass man angesichts dessen fast erschaudert.
Last War heißt die Sammlung mal trübsinniger, mal deprimierter, selten jedenfalls lebensbejahender Liebeslieder, deren melodramatische Stoßrichtung bereits im Titel des Eröffnungsstücks Kill The Fun deutlich wird. Es klingt ein bisschen nach den Pierces, diesem psychedelischen Feenfolkduo aus den Südstaaten, deren hypnotischer Doppelgesang wirkt wie einst die Sirenen auf Homer. Ein wenig erinnert es auch an Bon Iver, mit dessen Sänger Haley Bonar schon gemeinsam gespielt hat. In seiner Geruhsamkeit wirkt Last War dabei manchmal wie Hilferufe aus einem Kellerloch, durch das kaum ein Laut nach außen dringt.
Doch dann taucht man tiefer hinein in dieses epische Werk. Lässt sich im Titelstück abwärts ziehen und sodann mit Schwung an die Oberfläche. Schwimmt in Heaven’s Made For Two mit schnellen Zügen seelenruhig durch ein tosendes Gewässer. Treibt in From A Cage auf dem Rücken unterm Sternenhimmel und lässt sich in ein seichtes Meer aus Beatles-Harmonien treiben. Nimmt in Woke Up In My Future wieder Fahrt auf, bis einen das Finale namens Eat For Free im Sonnenaufgang an einen malerischen Strand spült, erschöpft, nicht glücklich, aber bis ins tiefste Gemüt geerdet.
Stets vollbringt Haley Bonar dabei das kleine Wunder, gleichsam zu flüstern und zu brüllen. Ihre Stimme mag manchmal wie in Watte gepackt klingen, runtergeregelt wie am frühen Morgen einer Sommernachtsparty, nicht mehr ganz wach, schon fast im Halbschlaf. Doch angetrieben von ihren Musikern, die sie sich aus dem Kosmos diverser Bands von Alpha Consumer bis Tapes ’n Tapes geborgt hat, entfaltet sich inmitten der Stille eine orchestrale Kraft, die gelegentlich fast in den Krach abdriftet, ohne je überdreht, gar aufgeregt zu sein.
All dies macht Last War zum letzten Beweis, dass die Wahl der Mittel im Pop ihr Ergebnis weniger beeinflusst als der Geist, der das Ganze gefühlvoll federn lässt. Haley Bonar ist eine Zauberin des Unterschwelligen; wer sich ihr entziehen kann, ist Speedmetalfan oder emotional zu abgebrüht für Folk aus der Tiefe des Herzens. Selten klang Zwiespalt schöner.
„Last War“ von Haley Bonar ist erschienen bei Memphis Industries.