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Gegen den Novemberschmerz

 

Endlich Mainstream für die Minderheit: Die deutsch-schwedische Band 1000 Gram klingt, wie Coldplay klängen, wenn ihr Schmalz wirklich von Herzen käme. Tolles zweites Album!

© Jeremy Lynch
© Jeremy Lynch

Wir leben in trostlosen Tagen. Draußen lauert der Winter unterm Herbstlaub. Die Nachrichten sind voll Pest und Verwüstung. Was davon ablenken könnte, ist eher betäubend als unterhaltsam. Und was lustig gemeint ist, übertönt den Gefechtslärm mehr, als ihn vergessen zu machen.

Da lindert es den dräuenden Novemberweltschmerz ein bisschen, wenn stille Tonlagen durch den Krach der Realität dringen, wenn aus Zurückhaltung Kraft entsteht und das wirklich Wesentliche in den Blick gerät. Bedürfte es eines Soundtracks gegen all das Ungute da draußen – 1000 Gram hätten ihn bereits geschrieben. Sogar zwei Mal.

Schon als die wohlbehütete Ordnung zusehends ungebremst den Bach runterging, hat ihr die deutsch-schwedische Band das seinerzeit tröstlichste Album der Saison verpasst. Zwei Jahre nach Ken Sent Me legt nun der Berliner Emigrant Moritz Lieberkühn weiter im Norden sein neues tiefenentspanntes Werk nach – und wieder hilft es durch die Ganzjahresdepression wie ein Sonnenloch im Frühjahrssturm.

Es heißt Dances, was weniger physisch als metaphysisch gemeint sein muss: Zum Tanzen gebracht wird damit nicht der Körper, sondern die Seele. Wund geschossen vom Alltag, legt sich der folkige Power-Folkpop wie ein Kissen unters Gemüt und gönnt ihm ein Päuschen.

Dass man daraus gar nicht mehr erwachen möchte, hat viele Gründe: Ein versiertes Songwriting, dessen Harmonien nur selten in Gefühlsduselei zerfließen, wie es bei derartigem Wohlfühlrock oft der Fall ist. Gitarrenriffs, die ihrer Flächigkeit mit Präzision trotzen, zwischen Gitarrensoli, die sich jeder Selbstverliebtheit enthalten. Das Ganze voller unaufdringlicher englischer Texte übers innere Ringen mit dem Leben vor der Tür, was trotz deutscher Muttersprachlichkeit nie nach Dictionary klingt. Und nicht zuletzt Lieberkühns hoffnungsfroh melancholischer Gesang, der am Ende der Strophen manchmal eine Spur zu hoch hüpft, als wolle er sich vom Korsett strikter Dramaturgie befreien.

1000 Gram sehen sich damit in der Tradition des Independent jener Musikepoche, als er noch Alternative hieß. Sonic Youth, Pavement, Fugazi lauten die Referenzobjekte, bereinigt allerdings vom Ballast unbedingter Distinktion, diesem rebellischen Antipopgestus, lieber eine Kante zu viel einzubauen, als auch nur entfernt gefällig zu wirken. Das macht 1000 Gram zuweilen etwas cheesy, als wollten sie partout vermeiden, ihr Publikum anzustrengen. Diesen Gestus mögen sie mit Indie-Karikaturen wie Coldplay teilen, sind denen aber nicht nur atmosphärisch um Lichtjahre voraus. 1000 Gram klingen, wie Coldplay klängen, käme ihr Schmalz aus dem Herzen statt dem Teleprompter des Erfolgs.

Wenn Lieberkühn zu Beginn singt, „Really need someone to pick me up / really need someone to let me in / I don’t really give a fuck on where and when„, meint er also weniger Charts oder Stadien als Erlösung von dem Druck, Massentauglichkeit sei nur der Masse zugänglich. 1000 Gram machen Mainstream für die Minderheit und verschaffen ihr damit ein Gefühl von Leichtigkeit, nicht ständig nach Erhabenheit zu streben. Zumindest für ein paar Augenblicke. Mehr kann solche Musik kaum wollen.

„Dances“ von 1000 Gram ist erschienen bei Fixe Records.