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Schönste Bleynachtslieder

 

Die Pianistin Carla Bley wurde im Herbst mit der German Jazz Trophy für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, nun legt sie eine CD mit Weihnachtsliedern vor: glänzend und intelligent.

© Klaus Muempfer
© Klaus Muempfer

Wolfgang Sandner hat es nett gemeint. Zum 70. Geburtstag von Carla Bley schrieb er im Mai 2008 in der FAZ, sie sei „das monströseste Chamäleon, das der Jazz kennt“. Der Satz charakterisiert die Pianistin so gut, dass er seither in keinem Text über sie fehlen darf – wir hätten ihn hiermit hinter uns.

Sandner schrieb auch, man dürfe nichts für bare Münze nehmen, woran Bley arbeitet, müsse ihrer Ironie standhalten und ihrem Spiel mit den Konventionen, die sie nur adaptiert, um sie zu brechen. Das jüngste, allerdings sehr behutsame Beispiel dafür ist Carla’s Christmas Carols – das perfekte Geschenk für den Jazzfreund, der Bugge Wesseltofts It’s Snowing On My Piano schon hat. Und Nils Landgrens Christmas With my Friends auch. Beide Teile.

Frau Bley, geborene Borg, machte sich in den sechziger Jahren im Free Jazz einen Namen – aber ihre Wurzeln liegen in der Kirche: Dem Papa, einem Kirchenorganisten, eiferte Carla schon seit dem vierten Lebensjahr nach, sang in Gottesdiensten und spielte bald auch Klavier und Orgel in der Kirche, bevor sie zum Jazz fand. Mit 17 zog sie Nach New York, verkaufte Zigaretten im Birdland, lernte den Jazzpianisten Paul Bley kennen und heiratete ihn. Von ihm ermutigt, spielte sie mit Pharoah Sanders, leitete dann mit ihrem zweiten Ehemann Michael Mantler das Jazz Composers Orchestra und tourte mit Größen wie Peter Brötzmann.

Seit 1969 arrangiert Carla Bley auch für Charlie Hadens Liberation Music Orchestra und spielt Klavier. „Ich war wirklich wie lange nicht zuvor über das erschüttert, was in Vietnam passierte“, erzählt Haden über die erste Platte der Band, „als wir das Album planten, bombardierte Nixon gerade Kambodscha. Ich rief Carla Bley an und sagte ihr: Ich möchte eine Platte mit politischen Songs machen!“

Neben Songs aus dem spanischen Bürgerkrieg und dem Brecht/Eislerschen Einheitsfrontlied ist darauf eine Nachbildung des Parteitags der US-Demokraten von 1968, als Gegner des Vietnamkriegs We Shall Overcome anstimmten und das Orchester sie mit patriotischen Liedgut zu übertönen versuchte. Auch weitere Alben, zuletzt die Anti-Bush-Platte Not In Our Name von 2004, bezogen politisch Stellung. Die taz hat das Liberation Music Orchestra , dem Bley immer noch angehört, einst als „linke Eingreiftruppe des Jazz“ bezeichnet.

Und noch ein bisschen Exkursion in die Historie muss sein, ums Bley Weihnachtsalbum in den rechten (oder linken) Kontext zu setzen. Zum Beispiel Bleys Projekt Escalator Over The Hill von 1971, ein nicht ganz präzise auch als „Jazz-Oper“ bezeichnetes Drei-LP-Konzeptalbum, von Weillesker Theatermusik über Free Jazz und Rock bis Weltmusik, bisweilen dada, manchmal gaga. Oder ihr Album Looking For America von 2003, das erstmal nach Big-Band-Mainstream klingt, unter der Oberfläche aber subversive Kommentare anbringt, am auffälligsten die abgründigen Harmonien zur US-amerikanischen Nationalhymne, die in urbanem Funk und Bläserverkehrslärm versinkt.

Jetzt aber Weihnachten. Überraschend würdevoll geht Bley die Arrangements bekannter Jahresendklassiker an. O Tannenbaum, God Rest Ye Merry Gentlemen, Joy To The World. Bleys Tastenarbeit ruht still, wenn auch nicht starr wie der winterliche See, ruhig schwingt das Piano, himmlisch klingelt die Celesta – eher im Hintergrund. Die Melodien kommen entweder von Bleys langjährigem Weggefährten Steve Swallow und seinem oft gitarrengleichen Bass oder von einem Blechbläser-Ensemble, das sich The Partyka Brass Quintet nennt.

Bei der Arbeit mit dem Liberation Music Orchestra wurde Bley manchmal vorgeworfen, die große politische Sache zu entspannt, zu swingend anzugehen. Hier passt der Ansatz: genug Humor, etwa in den dickbackigen Tubalinien, dass es nicht nach evangelischem Posaunenchor beim Stadtteil-Adventsmarkt mieft, aber eben auch keine wohlfeile Christmas-Dekonstruktion, wie sie kein Mensch braucht. Bley strukturiert, ordnet, entschlackt gern – aber nicht so, dass es unangenehm frostig wird in der Winterlandschaft.

Selbst Bleys Hell’s Bells und Jesus Maria betitelte Eigenkompositionen passen ins Adventsklima: Die Glocken der Hölle läuten harmonisch, und den Namen des Herrn und seiner Frau Mama führen Bleys Unterstützer nicht lästerlich im Munde. Wenigstens darf Swallows Bass hier mal in echt jazzigen Swing verfallen, der sonst beschaulich das Kindlein wiegt. Jingle Bells nähert sich gar zart dem Reggae an – aber eben nicht slapstickhaft-karikiert, nicht mit Gewalt gegen den Strich gebürstet, sondern nur behutsam leicht diagonal sandgestrahlt.

Auch wenn Bley, kürzlich mit der German Jazz Trophy ausgezeichnet, behauptet, sie bekomme eh immer nur Taschentücher und Socken von Santa Claus: Sie scheint ein insgesamt harmonisches, friedliches, vielleicht ja auch altersmildes Verhältnis zum Christfest zu haben. Oder das „monströseste Chamäleon“ des Jazz hat einfach nur besonders elegant die Farben von Weihnachtsbaum, Mistelzweig und weißer Weihnacht angenommen. So getarnt, passt sie zu jeder Bescherung. Und unterläuft den wohligen Konsumchristmaskitsch mit intelligenter Harmonie, die auch Spannungen kennt. Wie das echte Leben. Bare Münze? Jedenfalls glänzend.

„Carla’s Christmas Carols“ von Carla Bley, Steve Swallow und The Partyka Brass Quintet sind erschienen bei Watt/ECM/Universal