Eine Jazzkapelle versetzt Berge: Der Posaunist Christian Muthspiel und seine Mitmusiker ziehen den klassischen Jodelmelodien die Lederhosen aus. Da wird geschprötzt und juchazt.
„Holleri du dödel di diri diri dudel dö.“ – „Das genügt. Wir wollen jetzt versuchen, die bisher erarbeiteten Grundmotive des Erzherzog-Johann-Jodlers frei vorzutragen. Bitte, Herr Doktor Südermann!“
Loriots klassischer Sketch aus der Jodelschule ist so lustig, weil er das Jodeln ernst nimmt. Merke: „Das Jodeln, also das Diplomjodeln, das Jodeln mit Jodeldiplom, also mit Jodelabschluss, mit Jodeldiplomabschluss unterscheidet sich vom Jodeln ohne Diplom, ohne Jodeldiplom, das Diplomjodeln ist also nicht zu vergleichen mit dem Normaljodeln ohne Diplom, also ohne Jodelabschluss, Jodeldiplomabschluss.“
Christian Muthspiel jodelt ohne Diplom. Was nicht heißt, dass er das Jodeln weniger ernst nimmt. Der Jazzposaunist aus der Steiermark, älterer Bruder des Gitarristen Wolfgang Muthspiel, nähert sich mit seiner Yodel Group respektvoll, aber ohne übertriebene Ehrfurcht dem alpinen Vokalphänomen an. Dieses beschränkt sich nicht auf die Alpen. Auch im Kaukasus, Thailand, den amerikanischen Appalachen oder bei den Samen in Lappland haben sich Bewohner unwegsamer Gegenden akustische Techniken einfallen lassen, um über weite Strecken zu kommunizieren. Dass ein internationales Sextett Muthspiel unterstützt, ist also angemessen. Zwei Amerikaner, Bobby Previte und Brad Jones, bedienen Schlagzeug und Bass, der Schweizer Michel Mathieu bläst die Trompete, der Franzose Franck Tortiller spielt Vibrafon, und der Österreicher Gerald Preinfalk steuert Klarinetten und Saxofone bei.
Sie nehmen traditionelle Melodielinien – den Langenwanger, den Kogler, den Gußwerker oder den Mai-Jodler, der dem Album seinen Namen gibt – und strecken, stauchen, biegen sie. Aber sie brechen sie nicht. Muthspiel ist mit den urwüchsigen Lautäußerungen aufgewachsen, sein Vater, der Musikpädagoge Kurt Muthspiel, hat sie gesammelt, mit Chören aufgeführt und auch selbst Jodler komponiert.
Im Booklet des Albums May ist neben schwarzweißen Porträts eindrucksvoller Felsmassive ein Foto des neunjährigen Christian in Bergschuhen und Kniebundhose zu sehen, beim Vespern auf der Bergwiese, aufgenommen vom Vater. Nein, Christian Muthspiel will nicht dekonstruieren, dafür hat er den Jodler viel zu sehr verinnerlicht; er nimmt die Heimatmusik als Hebelpunkt, um Berge zu versetzen – in den Jazz.
Die Musiker vollziehen nach, was viele volkstümliche Stücke der Jodel-Regionen prägt: Das textlose Singen auf Silben wie „Holdudiradio“ oder „Johodraeho“ mit schnellen Wechseln zwischen Brust- und Falsettregister bestimmt häufig neben der Melodieführung auch die harmonische und rhythmische Gliederung. So auch in der Jazzvariante. Gern an Anfang und Ende, gelegentlich zwischendrin scheint die Melodie in ihrer Urform auf, das Musikantenstadl dräut trotz der ungewöhnlichen Besetzung dickbackig am Horizont wie Bates Motel – sekundenlang, bevor und nachdem sich die Musiker den Jodler aneignen und in ein ihnen geläufigeres Idiom übertragen.
Muthspiel und seine Mitmusiker ziehen den Jodlern die Lederhose aus und injizieren in den so von Kostümfolklore und Touristentracht entblößten corpus jubili Swing, Improvisation und durchaus auch Humor. Sie würzen die Tradition mit Barrelhouse-Geschmäckern aus New Orleans, kriegen den Edelweißblues, schprötzen, didgeridooen und juchatzen freejazzig ins Gebläse oder swingen übers Vibrafon, als sei Lionel Hampton ein steirischer Sennenbub. Muthspiel bedient auch Klavier, Vocoder und die Loop-Maschine, letztere prägen vor allem den spacigen Langenwanger, bevor der auf der Posaune geblasene Andachtsjodler als Schlussstück multifone Magie entfaltet.
Entstanden ist Christian Muthspiels Yodel Group als Auftragsprojekt für das Jazzfestival Saalfelden 2009. Es blieb nach der Premiere nicht beim Einmaljodler. Die musikalischen Ingredienzien ebenso wie die Klangkompetenz der beteiligten Künstler erwiesen sich als ausbaufähig. Die Balance aus Gemeinsamkeiten und unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht eine facettenreiche Annäherung an das Zeichensystem Jodeln. Ganz egal, ob das zweite Futur bei Sonnenaufgang nun Hollerö dö dudel dö oder Hollerö du dödel di heißt.
„May“ von Christian Muthspiel’s Yodel Group ist erschienen bei Material Records