Neben dieser 23-Jährigen sehen Amerikas R’n’B-Königinnen blass aus: Jessie J präsentiert auf ihrem Debütalbum „Who You Are“ eine Wahnsinnsstimme.
Während Lady Gaga in New York zu ihrem zweiten Schlag ausholte, um der Welt zu zeigen, wie man sich als Songwriterin und Produkt selbst erfindet, machte sich in London die junge Jessica Cornish zur Parade bereit.
Als Jessie J betritt sie nun mit ihrem Debütalbum das Poppanoptikum – und Who You Are ist, bei aller Radiotauglichkeit, kein Wachsabdruck sondern ein Originalentwurf. Dafür bekam sie den Kritikerpreis der Brit Awards und wurde von der BBC zur besten Nachwuchskünstlerin 2011 gewählt.
Sechs Jahre lang schrieb sie an ihren Songs und überlegte sich einen Stil, der sich als sophisticated ghetto chic bezeichnen ließe: Bling-Bling, Rohheit und schlagfertiger Humor. Sie inszeniert sich wie eine Karikatur des Seitenstraßenfegers und man könnte schmunzelnd über sie hinwegsehen, wäre da nicht diese Stimme. Großes Volumen, sanftes Tremolo, brilliante Höhen, warme Tiefen, dazwischen die Beweglichkeit einer Ringelnatter und die Wucht eines Holzfällers. Dagegen sehen selbst die hochdekorierten R’n’B-Königinnen Beyoncé, Rihanna oder Christina Aguilera blass aus.
Jessie J ist keine neue Balladenmadame. Ihre Stärke entfaltet sich irgendwo zwischen Hip-Hop-Beats, Rockriffs und sägenden Synthesizern (Do It Like A Dude). Vor zornigem Schlagzeug fügt sie gewöhnlicher Beziehungsrhetorik eine ergreifende Qualität zu (Nobody’s Perfect). Manchmal scheint auch die Sonne aufs raue Pflaster (Price Tag), von ferne schwingt ein Ragga-Rhythmus herüber und die Akustikgitarre spielt lichte Akkorde (Stand Up).
Zwar finden sich auf Who You Are auch einige Nummern, die allzu schnell ins Gehaltlose und Biebereske abrutschen. Ihre Texte könnten auf Best-Things-In-Life-Are-Free-Floskeln, Selbstbehauptungsmetaphern und Bushaltestellenpoesie verzichten. Aber was soll’s. Sie ist 23, sie hat Songs für Popgrößen wie Alicia Keys, Justin Timberlake, Chris Brown oder Miley Cyrus komponiert, dies ist ihre erste Platte und sie wird schon bald ihre Sprache weiterentwickeln. Das Talent ist jedenfalls nicht zu überhören.
Dem geneigten Leser sei dringend ein Konzertbesuch empfohlen. Da platzt die Kaugummiblase und sie zeigt mit ihrer Band beeindruckende Perfektion und Hingabe. Das Publikum hat sie jederzeit fest in der Hand. Gelernt ist gelernt: Mit 11 stand sie in Andrew Lloyd Webbers Whistle Down The Wind auf der Musicalbühne, an der Londoner Brit School erhielt sie den handwerklichen Schliff.
Musikalisch kann sie es mit Lady Gaga locker aufnehmen. Das überdimensionierte Theater, mit dem die Amerikanerin schließlich auch die Feuilletons eroberte, hat Jessie J nicht nötig. Sie kann sich auf ihre Wahnsinnsstimme verlassen. Und jetzt sage niemand, er sei nicht vor ihr gewarnt worden.
„Who You Are“ von Jessie J ist erschienen bei Universal Music.