Nach 20 Jahren im Musikgeschäft ist auch der Technoanarchist Alec Empire gereift. Das neue Album von Atari Teenage Riot zeigt, wie straight digitaler Hardcore doch klingen kann.
Bei Atari Teenage Riot (ATR) weiß man ja nie so recht, wohin mit den Gliedmaßen, mit der Energie, die da scheinbar aus allen Richtungen für Verwirrung sorgt, diesen pochenden Schmerz in den Ohren, auf der Haut, körperweit. Seit fast 20 Jahren macht der Berliner Technoanarchist Alec Empire in variabler Besetzung unterm Label Digital Hardcore, was sonst eher schockweise gegen Wühlmäuse durchs Erdreich gejagt wird: infernalisch übersteuerten Hochgeschwindigkeitskrach. Für Außenstehende unerträglich, unverständlich, für Eingeweihte ein elektronisches Mantra tonaler Dissidenz.
ATR wurden zum Synonym des Unerträglichen, dem man sich schwer entziehen kann, für die unerträgliche Leichtigkeit der Pein. Doch auch Weltenrüttler werden reifer, ruhiger. Und so wollen wir Alec Empire beim bürgerlichen Namen rufen und sagen: Danke, Alexander, für Is This Hyperreal?! Eine halbe Ewigkeit nach 60 Second Wipe Out (1999) enstand also das erst dritte Studioalbum von Atari Teenager Riot, die somit nicht allzu viel offiziellen Aufwand betreiben mussten, um zu globalem Ruhm zu gelangen und das Vorurteil zu beseitigen, dass Deutsche nur Techno mit Herrenmenschenmetaphorik können.
Auch auf dem aktuellen Album betreiben Alec Empire und die amerikanische Noise-Bastlerin Nic Endo natürlich ihren gewohnt dissonanten Agitprop. Wütend schleudern sie Parolen unters Elektropunkstakkato, fragen, rhetorisch „How much bullets will it take?„, marschieren gemeinsam „zu einem Bundestag, der nicht mehr das Volk vertritt, sondern die Konzerne“, und verkünden lauthals das Ende von Ausbeutung, Staatsterror, Internetdikatoren, Kapitalismus. Aber sie tun es seltener im Duktus völliger Zeichenauflösung.
Das Titelstück zum Beispiel klingt mit seiner DAF-ähnlichen Bassline fast melodramatisch, jedenfalls wavig. Shadow Identity erinnert mehr an Electroclash-Epigonen als an ATRs destruktive Wucht früherer Tage. Blood In My Eyes könnte auch von Chicks On Speed sein, wie es sich leicht zappelig durch den Pop sampelt, Digital Decayeignete sich als inoffizielle Hymne der Piratenpartei, wie es die Hauptstädte digitaler Befreiungsbewegungen durchzählt. Und The Only Slight Glimmer Of Hope atmet zum Einstieg fast ein wenig Stadionrock.
Is This Hyperreal? ist, in einem Wort: straight. Relativ gesehen natürlich; es bleibt ja doch genuines ATR-Zeugs, ein zehnstückiger Angriff aufs Wohlklangbedürfnis im elektronischen Mainstream, dem Atari Teenage Riot zum Beweis des verstörenden Potenzials im lärmenden Rearrange Your Synapsis nochmals alle verfügbaren Tonspuren auf der Festplatte entgegen hält.
Als die Single Hetzjagd auf Nazis Anfang der Neunziger zum ersten kleinen Szenehit des Projekts geriet – wer hätte da gedacht, dass die radikale Linke mal ihren Frieden mit Technomusik schließen würde, ruft Alec Empire gern in die wilde Masse während seiner Konzerte. Wer hätte gedacht, ließe sich vier Studioalben später ergänzen, dass man dabei irgendwann sogar weiß, wohin mit den Gliedmaßen beim Tanzen.
„Is This Hyperreal?“ von Atari Teenage Riot ist erschienen bei Digital Hardcore Recordings.