Im US-Bundesstaat Virginia zeigen sich die USA im Kleinen: demografischer Wandel, wirtschaftliche Entwicklung, Wahlverhalten – Virginia ist ein Mikrokosmos, der widerspiegelt, was die USA spaltet, was sie zusammenhält. Unser Reporter Carsten Luther war in Richmond, Virginia, unterwegs.
Tony Turners Arbeitstag ist lang. Zwölf Stunden sind es durchschnittlich, es können auch schon mal 16 werden. Da steht er dann im Friseursalon „Haywood’s Hair Images“ in Richmond, Virginia. Turner redet bei der Arbeit gern viel, und es sieht beinahe so aus, als sei der 40-Jährige nur zum Spaß hier. Überhaupt scheint an diesem Ort das hektische Leben vor der Tür zu bleiben. Die Kunden haben nichts dagegen, wenn sie warten müssen. Der Stress des Alltags hat hier nichts verloren. Doch der Politik und der anstehenden Präsidentschaftswahl kann man selbst in „Haywood’s Hair Images“ nicht entkommen.
Schon der Vorgarten lässt keinen Zweifel aufkommen: Anhänger des republikanischen Herausforderers Mitt Romney werden sich hier nicht wohlfühlen. Die kleine Fläche neben dem Treppenaufgang ist gespickt mit den typischen Kunststoffschildern, die Unterstützung für Barack Obama, den Senatskandidaten Tim Kaine oder andere demokratische Politiker signalisieren. Hinter der Tür steht links eine Box, man kann eine Karte einwerfen, sich als Wähler registrieren. Im Salon hängt nicht nur ein Poster des Präsidenten.
„Ich glaube, wir haben schon den einen oder anderen Kunden, der Republikaner ist“, meint Turner. Doch naturgemäß ist das in dieser afroamerikanisch dominierten Nachbarschaft in Downtown Richmond die Ausnahme. Auf die Stimmen der schwarzen Bevölkerung kann sich Obama weitgehend verlassen, davon gehen die meisten Umfragen aus.
„Jeder soll seine Chance bekommen“
Turner aber gehört noch zu einer weiteren Gruppe, die beide Kampagnen intensiv umwerben. Kleinunternehmer, so hört man immer wieder, seien das Rückgrat der Wirtschaft und der viel zitierten Mittelschicht. Sie schafften die Jobs, um die sich bei dieser Wahl alles dreht. Deshalb versprechen Obama und Romney niedrige Steuern, bessere Bedingungen für Kredite und Gründungen, die Details bleiben dabei oft im Dunkeln.
Der fleißige Friseur versucht neben seinem Job bei „Haywood’s Hair Images“ eine eigene Linie von Haarpflegeprodukten zu vermarkten – der amerikanische Traum als One Man Show. „Ja, das ist noch möglich, ich glaube daran – und Obama gibt mir das Gefühl, dass er Menschen wie mich unterstützt“, sagt Turner. „Ich habe keine College-Ausbildung, konnte nur auf eine Handelsschule gehen, weil ich ein Stipendium bekam. Was mich interessiert, ist Folgendes: Haben wir einen Präsidenten, der für ein besseres Amerika kämpft, wo jeder seine Chance bekommt wie ich? Oder einen, der nur an der Macht interessiert ist und für seine eigenen Leute arbeitet?“
Für die Kandidaten sind mittelständische Unternehmen eine wichtige Zielgruppe – fast sechs Millionen Firmen zählen dazu, weil sie weniger als 500 Angestellte haben, das betrifft rund die Hälfte aller Jobs in den USA. Doch sie sind nur schwer zu fassen: Der Autozulieferer mit 250 Mitarbeitern hat sicher andere Sorgen als das High-Tech-Startup mit fünf Mitarbeitern. Wenn Romney oder Obama über Kleinunternehmen sprechen, gewinnt man den Eindruck, es gehe vor allem um Firmen, die sich wegen ihrer Angestellten um Steuern, Gewerkschaften oder die Krankenversicherungspflicht Gedanken machen. Allerdings heißt small business in den USA in der Regel wirklich kleines Geschäft, wie bei Turner: Mehr als 70 Prozent sind Ein-Mann-Unternehmen ohne Angestellte, viele zählen nur eine Handvoll Mitarbeiter. In Virginia glauben einer aktuellen Umfrage zufolge 40 Prozent der kleinen Geschäftsleute, dass Obama ihre Interessen eher vertritt, 27 Prozent stehen hinter Romney. 32 Prozent sind sich nicht sicher.
„Romney versteht uns Geschäftsleute besser“
Beeinflusst wird das Meinungsbild in diesem Umfeld sicher dadurch, dass Virginia noch vergleichsweise gut durch die Krise kommt. Lag die Arbeitslosenquote national zuletzt bei 7,8 Prozent, sieht es hier mit 5,8 Prozent deutlich besser aus. Das hängt vor allem zusammen mit der großen Zahl von Regierungsangestellten im Norden, wo der Bundesstaat an die Hauptstadt Washington grenzt, mit den zahlreichen Militärjobs rund um die Marinebasis Hampton Roads im Südosten und mit der positiven Entwicklung des Ballungsraums Richmond.
Viele kleine Betriebe blicken aber dennoch mit Sorge auf die Wirtschaftslage – und fühlen sich deshalb bei Romney besser aufgehoben. „Ich habe schon für beide Parteien gestimmt, aber diesmal wähle ich den Kandidaten, von dem ich glaube, dass er uns Geschäftsleute besser versteht“, sagt etwa Lorrie Jones Gore. Zusammen mit ihren beiden Schwestern hat sie nach dem Tod ihres Vaters den kleinen Heizungs- und Sanitärbetrieb Gundlach übernommen, der seit mehr als 80 Jahren besteht. „Ich zähle mich nicht zu den Großverdienern, habe viele schlaflose Nächte hinter mir und einige weiße Haare bekommen in den vergangenen vier Jahren“, sagt die 50-Jährige. Ihr geht es vor allem um die Verantwortung für ihre Angestellten: „Ich musste einige Versicherungsleistungen streichen, weil ich sie einfach nicht bezahlen konnte, allein die gestiegenen Kosten für Benzin fressen uns mittlerweile auf.“
Gore hofft, dass Romney die Wirtschaft wieder in Schwung bringt. Aber sicher ist sie sich auch nicht: „Lange fehlten mir die Details, ich wusste nicht, was ich bekommen würde von Romney, was er wirklich tun wollte. Inzwischen habe ich mehr gehört, aber mal ehrlich: Wenn ich einen Kredit brauche und einen Business-Plan aufstelle, muss ich mit allen Einzelheiten überzeugen. Das bekommen wir von den Politikern nicht.“
„Eine Menge vager Versprechungen“
Je mehr man mit kleinen Geschäftsleuten in Virginia spricht, desto mehr festigt sich das Bild: Richtig zufrieden sind sie mit keinem der beiden Kandidaten. „Ich habe von der Politik so ziemlich die Nase voll“ sagt auch Steve Magat, der aus der Arbeitslosigkeit heraus einen Neuanlauf wagte. Seinen Job in der Finanzbranche hat er vor einigen Jahren verloren. „Sie haben mich gegen einen 25 Jahre jüngeren Mitarbeiter ersetzt. Um meine Firma aufzubauen, musste ich mich verschulden.“ Jetzt betreibt er ein Nachhilfeinstitut, ein Saisongeschäft, das immer dann gut läuft, wenn Prüfungen bevorstehen – „und wenn die Leute es sich leisten können“, weiß Magat. „Weil Virginia in dieser Wahl eine so große Rolle spielt, schiebt man uns die Wahlkampfbotschaften vorn und hinten rein, aber wir hören nur eine Menge vager Versprechungen“, sagt der 50-Jährige. Mit den Idealen, die Obama vertrete, könne er sich identifizieren. „Der Präsident setzt sich mehr für den Einzelnen ein, Romney setzt ganz auf die Unternehmen, leider eher auf die großen.“
Am Ende scheint es für die kleinen Geschäftsleute also doch die Entscheidung zwischen zwei grundlegend verschiedenen Ideologien zu sein, zu der diese Wahl bisweilen stilisiert wird. Dabei kommt es überraschenderweise gar nicht so sehr darauf an, ob nun mehr oder weniger Steuern, mehr oder weniger Staat der richtige Weg sei. „Wenn ich das Gefühl habe, das Geld wird richtig eingesetzt und die Regierung tut etwas, von dem wir einfachen Bürger profitieren, dann zahle ich dafür gern“, sagt Magat; ähnliches ist von Anhängern beider Lager zu hören.
Der Friseur Turner geht bei aller Verehrung für Obama sogar noch weiter: „Im Grunde ist es mir egal, ob Demokrat oder Republikaner, wenn sie eine gute Idee haben, sollten sie sich zusammenraufen und das durchziehen, das haben wir lange nicht mehr gesehen.“ Trotzdem ist die Rechnung für ihn einfach: „Bush hatte acht Jahre Zeit, alles zu vermasseln, also sollte Obama auch acht Jahre haben, um dieses Land zu reparieren. Er sollte beenden dürfen, was er angefangen hat.“