Ich fahre wie so oft von Hanau nach Berlin, um übers Wochenende meine beiden Enkelkinder zu betreuen. Doch diesmal sollte die Zugreise eine ganz besondere werden, und ich nehme vorweg, dass ich als glücklichster Mensch in Berlin aussteigen werde. Ungefähr auf halber Strecke werde ich Zeugin, wie Bahnpolizei und Zugbegleiter einen jungen Mann umzingeln. Offenbar hat er keinen Fahrschein. Er kann sich zwar ausweisen, aber er schaut verschämt und hilflos auf den Boden. Der Ton der Beamten wird immer schärfer, und dann meint ein Zugbegleiter, dass der Mann an der nächsten Station von der Polizei abgeführt werden solle. Ich zögere einen Moment, denke an die vielen Flüchtlinge, die abgeschoben werden, und gehe wie von einer unsichtbaren Hand geführt zu der Gruppe. Ich sage, dass ich das Ticket bezahlen möchte. Alle schauen mich ungläubig an. Zugbegleiter und Polizei besprechen die neue Situation – und akzeptieren. Da ein Zugbegleiter meint, den jungen Mann bereits ab Würzburg gesehen zu haben, und da er nach Berlin möchte, »darf« ich 131,50 Euro bezahlen. Der junge Mann bedankt sich bei mir und setzt seine Fahrt fort, er findet einen Platz auf dem Boden im Türbereich. Bald kommt eine junge Frau auf mich zu und lobt mein Handeln. Schon kommt eine zweite Frau und preist meine Tat als Zivilcourage. Mit Tränen in den Augen geben mir beide je einen 10-Euro-Schein. Eine dritte Frau spricht mich an und betont, dass sie aus meiner Tat gelernt habe, nicht schweigend zuzusehen, wie man mit Fremden umgeht. Ich sei gar ein Engel, behauptet ein Mann, der hinter mir sitzt und den ich vorher gar nicht bemerkt habe, er reicht mir einen 20-Euro-Schein. Eine sehr junge Frau fragt verschämt, ob ich fünf Euro annehmen würde, mehr könne sie nicht aufbringen. Am Ende habe ich die Hälfte des Ticketpreises beisammen. Als ich in Berlin aussteige, habe ich das Gefühl, die ganze Welt umarmen zu wollen.
Rina Nentwig, Erlensee, Hessen