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Jetzt geht’s los!

(Nach Rainer Maria Rilke, „Herbsttag“)

Mensch, sieh dich an. Du bist ein Trauerkloß.
Rundum der vielen Völlereien Spuren,
Der Säufertouren Zeichen. Jetzt geht’s los!

Geh endlich in das Fitness-Studio rein;
Stell einmal ehrlich dich auf eine Waage,
Beginn den langen, schweren Marsch, verzage
Nicht! Quäle den Körper – er wird’s verzeih’n,
Wenn federleicht er bald, nicht tonnenschwer.

Wer jetzt nicht stemmt die bleiern-schwarzen Scheiben,
Wird schwabblig, fett und unansehnlich bleiben.
Ein schlaffer Schwächling – statt ein starker Bär,
Nach dem die Frau’n bewundernd sich die Augen reiben.

Kurt Wagner, Bonn

 

Was mein Leben reicher macht

Im Zug. Seit einigen Minuten betrachtet ein älterer Herr kopfschüttelnd die vorbeifliegenden Graffiti auf den Schallschutzwänden. Dann sagt er zu seinem Begleiter: „Mensch, all d Farb. Was des koschded hend muss. Und man kann gar nix davo erkenne. Eigendlich schad.“

Patrick Lürwer, Stuttgart

 

Was mein Leben reicher macht

Die Begegnungen mit meiner Freundin Christiane. Sie hat mit 42 Jahren einen Schlaganfall erlitten und kämpft seit 15 Jahren erfolgreich gegen ihre Lähmung und Aphasie. Obwohl Christiane auch heute noch nach Wörtern sucht, können wir uns wunderbar unterhalten. Jedes längere Gespräch beendet sie mit dem Satz: „Das Leben ist schön.“ Dann geht es mir gut. Denn ihre Energie und Lebensfreude sind ansteckend.

Margrit Hintz, Kiel

 

Warum ich trampe

Liebe Autofahrerin, lieber Autofahrer,

ich reise, genau wie ihr. Mal mit Zeit, mal habe ich es eilig. Dabei verbringe ich viele Stunden auf Landstraßen, Auffahrten, Raststätten. Und warte. Auf euch! Gerade habe ich am Tramprennen 2011 nach Griechenland teilgenommen. Ich mag diese Art der Fortbewegung. Bahn fahren ist schön, aber teuer. Mitfahrzentralen sind schön, aber langweilig. Beim Trampen aber gibt es etwas, das schwer zu beschreiben ist. Einen Kick, ein Glücklichsein. Wenn das Auto stoppt, dann öffnet sich auch eine Tür in eine neue Lebenswelt.

Wie tickt ein Multimillionär bei 250km/h? Wie sieht ein Lkw-Fahrer die Welt? Und andersrum: Was bewegt einen Studenten? Warum steht er hier? Manchmal sehe ich Misstrauen in euren Augen. Es ist okay, wenn ihr Nein sagt an der Raststätte. Doch mit einem Ja macht ihr mich glücklich. Ein Stück vorankommen Richtung Ziel. Und manchmal überrascht ihr mich. Fahrt Umwege, bringt mich vor die Haustür. Teilt euer Essen, erzählt aus eurem Leben. Ich bin dankbar für diese Geschichten, Einblicke und Erfahrungen und bewundere euren Mut.

Hanjo Klein
, Bayreuth

 

Schraubenzieher: Mein Wort-Schatz

Als Kind durfte ich lernen, was ein Schraubenzieher ist. Jetzt im Alter verbessert mich die junge Generation beim Heimwerkeln: „Ach, du meinst den Schraubendreher!“ Ich aber werde darauf bestehen, dass man mir in meinem letzten Ruhebett einen Schraubenzieher mitgibt! Denn falls ich nur aus Versehen für tot gehalten wurde, kann ich damit die Schrauben aus dem Sarg wieder rausziehen – und noch ein wenig weiterwerkeln.

Peter Thon, Hildesheim

 

Was mein Leben reicher macht

Menschen, die auch „unnötig“ Kontakt mit anderen Menschen aufnehmen. Wie neulich ein Herr in Hamburg: als ich meinen Smart abgestellt hatte, sagte er: „Seien Sie vorsichtig! Hier gibt’s viele Elstern, die nehmen ihr Auto gleich mit.“

Roa Hachmann, Uelzen

 

Zeitsprung

Schon seit Jahren führt meine Mutter ein fotogra­fisches Tagebuch. Von Zeit zu Zeit macht sie dann einen Zeitsprung in die Vergangenheit, um zu se­hen, was sie in den vorherigen Jahren zu einem bestimmten Datum fotografiert hat.

Vor Kurzem entdeckte sie auf der Suche nach einem bestimmten Motiv zufällig das Bild der Su­shi­-Verpackung. Sie machte das Foto im vergange­nen Jahr, weil ihr der Name des Produkts ange­sichts der furchtbaren Tsunami­Katastrophe 2004 eigenartig und makaber vorkam. Dieser „Fund“ hat uns zum erneuten Kauf des Sushi bewogen – und siehe da: Das Ereignis in Fukushima 2011 scheint eine Namensänderung bewirkt zu haben.

Laura Yawira Scheffer, Berlin

 

Gebenedeit: Mein Wort-Schatz

Es gab nicht viel, was mein Vater nicht erklären konnte, wenn man ihn fragte. Und doch erzählte er mit zu meinem 18. Geburtstag wunderbarerweise, es gäbe ein Wort, welches ihn schon als Kind beschäftigte, dessen Bedeutung ihm aber stets schleierhaft geblieben sei:

Das Wort handelt von etwas, das klanglich an eine der Todsünden erinnert und gleichzeitig das Allerhöchste anrührt, ich glaube, er ist bis heute noch nicht überzeugt von der Eindeutigkeit der etymologischen Zuordnung, die sich ihm als altem Nebenbei-Lateiner verstandesmäßig natürlich leicht hätte erschließen können.

Wären wir nicht seit zwölf Jahren ohne Verbindung, würde ich vielleicht nicht immer wieder an diese schöne und tiefe und so lebendige Doppeldeutigkeit in unserem Verständnis dieses Wortes denken. Ich gestehe: Ich tue es genüsslich, weil sich in Sehnsucht manchmal gut leben lässt, vermeintlich leichter… Gebenedeit ist das Wort, das ihn so beschäftigte. Ihn, der als zehnjähriges Flüchtlingskind aus Dresden mit seinen Eltern ins Südbadische kam. Ich stelle mir vor, wie der atheistisch erzogene Knabe in bergenden Wortwolken versank, „…und gebenedeit sei die Frucht Deines Leibes, Jesus…“, staunend und offen für alle Wunder der Welt und des Kosmos.

Ich bin seine einzige (die verlorene?) Tochter. Bin Künstlerin geworden und beschäftige mich in Malerei und Installationen mit dem Erfülltwerden von Wünschen und anderen existenziellen Fragen, Manier: punkiges, schneidendes, opulentes Barock.

Würde mein Vater kommen und sich meine Werke ansehen: Ich fühlte mich beinahe gesegnet.

Kerstin Schaefer, Stuttgart

 

Was mein Leben reicher macht

Dass nun endlich die Sommerpause des Burgtheaters endet. Am Eröffnungswochenende: eine Uraufführung, eine Premiere – und ich hab Karten dafür!

Harald Retschitzegger, Ried im Innkreis, Österreich

 

Was mein Leben reicher macht

Wenn es mein zwölfjähriger irakischer Lesepatenjunge schafft, einen kurzen Text fast fehlerfrei zu lesen, und er den Inhalt des Textes verstanden hat, dann glaube ich ganz fest, dass er es irgendwann in eine weiterführende Schule schaffen wird.

Ursula Götz, Pforzheim