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Endspurt

Paodie auf »Herbsttag« von Rainer Maria Rilke

Herr, es ist Zeit — der Sommer war doch Schrott!
Los, gib’s schon zu! Wir alle bau’n mal Mist,
Ob Honorarprofessor, Opa oder Gott.
Da hilft kein Wegschaun, weil es ist, wie’s ist.

Du hast ja Glück, dass trotzdem etwas reift,
Doch das liegt eher an dem guten Boden.
Ich hülle mich schon in den Winterloden,
Weil Herbstwind um die kahlen Äste pfeift.

Doch wer kein Haus hat, der ist selber schuld,
Denn wozu gibt es eine Bausparkasse?
Der irrt, vor Kälte zitternd, durch Alleen und saugt
Am Plastiktrinkhalm einer Einwegtasse.

Heidrun Pelz, Freiburg im Breisgau

 

Altweibersommer

Parodie auf »Herbsttag« von Rainer Maria Rilke

Herr, gib mir Licht, der Sommer war sehr knapp.
Nimm alle Schatten meiner Seele fort,
und für den kleinen Badeort sieh von den Nebelschwaden ab.

Lass wärmer werden meinen See,
gib ihm doch noch acht südlichere Tage.
Lass ruhig reifen blaue Beeren und jage
die kalten Schauer in die ferne Höh.

Wer jetzt noch badet, fühlt Gelassenheit.
Wer jetzt sich sonnt, kann sich noch lange freuen,
mit Heidelbeergenuss die Zähne bläuen.
Sein Herz trotzt still der Winterzeit
und glüht, auch wenn ihm Stürme dräuen.

Beate Hugenschmidt, Freiburg im Breisgau

 

Quetsche-Nivvel: Mein Wort-Schatz

Nach einem vierjährigen Toskana-Aufenthalt zurück in Deutschland, erweiterte unser neuer Nachbar unseren Wortschatz durch einen Begriff für den morgendlichen Nebel im Frühherbst, der in Oberhessen als Quetsche-Nivvel, also als Pflaumennebel, bezeichnet wird.

Dietmar Weitzel, Marburg

 

Was mein Leben reicher macht

Kränkelnd verlasse ich morgens das Haus und fürchte, dass das kein guter Tag wird. An einer belebten Straße in Berlin-Kreuzberg passiere ich zwei sehr gebrechliche alte Herrschaften, die sich offenbar zufällig getroffen haben. Die Frau fragt forsch: »Wie geht’s, wie steht’s?« Der Mann legt daraufhin sein breitestes Grinsen auf: »Beschissen schön!« Der Tag ist dann einfach herrlich geworden!

Daniela Dicks, Berlin

 

Zeitsprung: Noch im Einsatz

Diese beiden Fotos zeigen – von verschiedenen Seiten aufgenommen – dasselbe Fahrzeug, einen »Geräte­träger« der Firma Lanz. Auf dem ersten Bild freuen sich meine Kinder Bärbel (damals 12 Jahre alt), Friedrich (8) und Brigitte (5) zusammen mit ihrer Cousine Iris (5) und ihrem Cousin Peter (7) im Jahr 1959 auf einen Nachmittag bei der Heuernte. Das farbige Bild ist 55 Jahre später entstanden, zu Brigittes 60. Geburtstag. Auf der Pritsche zu sehen sind Friedrich, Martin (der Jüngste und damals für die Ausfahrt ins Heu noch zu klein) und Bärbel. Ich selbst (92) sitze am Steuer. Der restaurierte Traktor erstrahlt in neuem Glanz, wir Men­schen aber sind deutlich in die Jahre gekommen.

Hans Reitter, Schwanau-­Ottenheim, Baden

 

Was mein Leben reicher macht

Vom Frühstückstisch aus sehe ich den Schwalben zu, die sich über dem Tal sammeln. Ich begreife, dass sich dieser Sommer, in dem ich innerhalb eines Monats meinen Sohn geboren und meinen Vater begraben habe, seinem Ende zuneigt. Eine schwer zu beschreibende, bittersüße Melancholie kommt in mir auf.

Stefanie Läpple, Oberrot, Baden-Württemberg

 

Wunderfrucht

Im Garten unseres Pfarrhauses steht ein echter Wunderbaum: Er trägt einen dicken, orangefarbenen Kürbis. Viele Besucher glauben, wir hätten die Frucht aus Deko­ zwecken in die Krone des Baumes gelegt, doch dem ist nicht so: Der eigensinnige Kürbis hat seinen Weg ganz allein gefunden.

Isabel Pawletta, Gransee, Brandenburg

 

Das Versprechen

Hubertus, mein jüngster Sohn, wird 30 Jahre alt. Alex, sein ältester Bruder, ist 17 Jahre älter. Beim Räumen habe ich ein Büchlein gefunden, in das vor 20 Jahren der damals zehnjährige Hubertus schrieb: »Ich heirate niemanden außer den Alex, wenn man, wenn ich groß bin, Männer heiraten darf.«

Ingrid Halmburger, Wörthsee, Bayern