Für uns Kinder war, solange wir klein waren, wenig Zeit und Raum, da meine Eltern in einem sehr kleinen Haus eine Tierarztpraxis aufbauten. Ein echter Familienbetrieb, in dem meine Großmutter den Haushalt, meine Mutter die Praxisassistenz und mein Vater im Keller des Hauses die Arbeit in der Kleintierpraxis erledigte. Für mich kleinstes Familienmitglied war damals mein Großvater zuständig, ein großer hagerer, schon etwas klappriger Herr mit einer großen Portion Mutterwitz. Er hat mich bedingungslos und leidenschaftlich geliebt und für mich immer »Puppchen, du bist mein Augenstern« gesungen, denn ich war ganz und gar sein Liebling – dieses Gefühl hat mich lange gestärkt und begleitet. Heute habe ich beruflich viel mit vierjährigen Kindern zu tun und darf bei dieser schönen Arbeit viele kleine Augensterne kennenlernen. Und immer, wenn ich merke, dass die Eltern ihre Kinder genauso wahrnehmen und hüten, freue ich mich für beide Seiten.
Mein Wort ist der Guckschatz. Der aus der Ferne angeschmachtete, verehrte Mensch. Der Abstand ist dabei ebenso wichtig wie das scheinbar völlige Unbeteiligtsein. Nicht selten guckt auch der andere sehr interessiert. Sobald der Abstand sich verringert, kommt es zum Erröten, Herzklopfen sowie zum Stammeln. Leider verschwindet dann auch gelegentlich der Zauber des Guckschatzes.
Mir fallen mehrere Wörter ein, die mir viel bedeuten: Sapperlot!, damit machte die Tante ihrem Ärger Luft. Mein Vater beklagte oft die Saumseligkeit des Beamtenapparats. Und wunderschön, aber nahezu in Vergessenheit geraten ist der Begriff Fürderhin für zukünftig, weiterhin.
Des Morgens nach den Nachrichten würde ich gern Trübsal blasen. Leider weiß ich nicht, womit man das bläst. Sind es wirklich die Posaunen oder doch lieber Holzblasinstrumente wie in biblischen Zeiten, wie ich im Internet lese? Das allein könnte der Grund sein, warum ich dann doch lieber in Melancholie verfalle.
Auch wir haben wie andere Leser ein Wort, das es nur in unserer Familie gibt: Taster. »Reich mir mal bitte den Taster«, das klingt doch viel geläufiger und praktischer als »Gib mir mal die Fernbedienung«. Schließlich kann man die Senderwahl oder die Einstellung der Lautstärke auch im Halbdunkel ertasten. Eines Tages kam unsere Tochter empört von der Schule nach Hause: »Niemand in meiner Klasse sagt Taster!« Das mag im Allgemeinen wohl stimmen. Aber bei uns gibt’s das Wort noch heute.
Meinungsaustausch – gibt’s noch was Langweiligeres als das? Wie schön ist da doch so ein Kaffeeklatsch! Kaffee klatsch geht nur mit Freundinnen. Tratsch ist Pflicht, Kuchen auch. Kaffee dagegen kann locker durch ein Glas Sekt ersetzt werden.
Wenn wir in früheren Zeiten jemanden einen Dummbax nannten, war es jemand, der etwas verträumt oder nur trottelig war und in manches Fettnäpfchen trat. So einem konnte man eigentlich nichts übel nehmen.
Zwar liegt mein Geburtsort nur 20 Kilometer von meinem jetzigen Wohnort entfernt, und doch lernte ich kürzlich einen mir völlig neuen Begriff kennen: In dieser Jahreszeit leuchten sie wieder gelb auf den Wiesen, die Bumbaumeln. Jedes echte Erfurter Kind weiß, wovon die Rede ist: Andernorts ist es der Löwenzahn, der die Frühlingswiesen belebt. Seit 15 Jahren lebe ich nun in Erfurt und habe dieses freundliche Wort gern in meinen Wortschatz übernommen.
Beim Kaffee im Familienkreis kam mir der Ausdruck Verfumfeit über die Lippen. Meine Mutter stutzte: »Das ist ja Opas altes Wort!« Mein Großvater hatte es gebraucht, wenn er sagen wollte, dass man etwas verloren oder verlegt habe. Wir waren immer davon ausgegangen, dass mein Großvater dieses Wort frei erfunden habe und es allein unserer Familientradition gehöre. Ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch und ins Internet belehrte uns jetzt aber eines Besseren: »veraltet, mundartlich: etwas unter Spiel und Sang herrichten; mundartlich: etwas in liederlicher Art und Weise machen und etwas verderben, verpfuschen, verschwenden, leichtfertig vertun«. Auch wenn mein Großvater also nicht der Schöpfer des Wortes ist: Es bleibt für uns immer mit Opa Otto verbunden.
Wenn unsere Mutter in der Hungerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg – ich weiß nicht, wie – einmal einen Kuchen gezaubert hatte, dann fielen wir Kinder auch über die Brinkelmansche her. So hießen bei uns die kleinen Kuchenkrümel und -bröckchen, die beim Schneiden auf dem Kuchenteller übrig bleiben. Woher kommt »Brinkelmansche«? Ist es ein mundartlicher Ausdruck aus Berlin? Unsere Mutter wird das Wort nicht erfunden haben: Als Deutschlehrerin kannte sie sich mit unserer Sprache bestens aus.