Mein Lieblingswort ist Schiffshebewerk. Schon der Begriff signalisiert etwas »Erhebendes«, ein Wunderwerk der Technik, das ganze Schiffe nach Bedarf heben und senken kann. Schon als Junge war ich davon fasziniert, nachdem ich den Begriff samt Beschreibung (»zur maschinellen Überwindung großer Höhenunterschiede zw. 2 Wasserspiegeln; Antrieb des den Schiffskörper aufnehmenden Troges hydraulisch oder mittels elektrisch bewegter Schraubenspindel, Zahnräder, Ketten, Seile«) in Knaurs Konversationslexikon von 1932 gelesen hatte. Ich besitze das Lexikon, das früher meiner Mutter gehörte, noch heute. Kürzlich habe ich das inzwischen denkmalgeschützte Schiffshebewerk Henrichenburg bei Dortmund besichtigt und war erneut beeindruckt von dieser kühnen und formvollendeten Konstruktion.
Da fahre ich doch neulich mit einer liebevoll restaurierten Kleinbahn, dem »Pollo«, in meiner Heimat, der Prignitz, jenem Landstrich »irgendwo in der Mitte zwischen Berlin und Hamburg«. Dort lese ich neben einer Waggontür die Aufschrift »Für Traglasten«. Sofort wurden Kindheitserinnerungen wieder wach. Unsere vierköpfige Familie hatte damals in den sechziger Jahren kein Auto, wie so viele andere auch nicht. Aber Camping machen, oh ja, das wollten meine Eltern mit uns beiden Söhnen! Wenn es also auf Reisen ging, zählte mein Vater am Bahnsteig mehr als zehn Gepäckstücke. Kein Problem. Die Deutsche Reichsbahn hatte eben für »Traglasten« gesorgt, eigens ein Abteil dafür bereitgestellt und beschriftet.
Heute schleppe ich längst nicht mehr so viel wie damals auf meinen Reisen mit mir herum, stöhne aber schon bei weitaus geringerem Gewicht. Wenn ich mir jetzt selber sage: »das sind eben deine ›Traglasten‹«, dann kann ich dazu stehen. Sie zu tragen wird dann gleich etwas leichter. Liebenswert, finde ich, ist dies alte Wort, ein fast verschwundenes Wort mit Realitätssinn. Doch die Zeiten haben sich geändert. Das für Traglasten am ehesten geeignete Bahnabteil ist heute den Fahrrädern vorbehalten. Dementsprechend ist auch draußen der Waggon mit dem Piktogramm eines Fahrrades gekennzeichnet. Schade, dass es »Für Traglasten« nicht mehr gibt. Es würde sich dann vielleicht, ähnlich den Radlern, eine eigene Fahrgemeinschaft bilden für Traglasten. Einer trage des anderen Last. Ja, dies vielleicht auch, wenn’s nötig erscheint.
Unsere Kinder sollen möglichst wenig Zeit vor Fernseher oder Computer verbringen. Nach jahrelangen Diskussionen aber bekommt der Älteste doch einen Nintendo DS zu seinem neunten Geburtstag. Verdummung, Verblödung, mir war ganz mulmig zumute. Bis ich mich telefonisch beim Spielwarengeschäft im Nachbarort nach einem passenden Spiel für dieses neue Gerät erkundigte. Ich wurde in die Fachabteilung durchgestellt, und der Verkäufer begrüßte mich mit den Worten: »Sie frugen nach dem Spiel…« Mir wurde warm ums Herz. Jemand, der im PC-Spiele-Geschäft tätig ist, benutzt noch diese Konjugation! Es besteht noch Hoffnung! Vielleicht mutieren meine Kinder doch nicht zu Spiele-Zombies, sondern bewahren sich den Sinn für Worte, Ausdruck und Sprache.
Mäandern – schon der Klang mit der seltenen Vokalkombination ist schön. Und inhaltlich: Mir kommen die Flüsschen der nahen Schwäbischen Alb in den Sinn, die sich träge schlängeln, Zeit haben, bequem sind, den längeren, aber angenehmeren Weg wählen. Diese Ineffizienz zugunsten der Schönheit des Laufs gefällt mir. Mäandern steht im Gegensatz zur Geradlinigkeit, die oft in unserer Gesellschaft gefordert ist. Aber haben nicht auch mäandernde Lebensläufe ihre Vorteile? Man sieht vielleicht mehr vom Leben! Und die »begradigte« Schulausbildung G 8 wird glücklicherweise stellenweise schon renaturiert, so wie viele Sünden an Wasserläufen korrigiert werden. Schneller und stromlinienförmig scheint doch nicht immer das Nonplusultra zu sein – weder in der Natur noch in der Menschenbildung.
7.00 Uhr in der Frühe. Ich schaue aus dem Fenster und sehe in der Ferne aufziehende Morgenröte. Auf der gegenüberliegenden Wiese liegt eine dicke Nebelschicht: Biesekater. Vor meinem Haus zwei joggende ältere Damen; und ich erinnere mich an eine längst vergangene Zeit, in der Altwerden noch als normaler Lebensprozess angesehen wurde, begleitet von Ruhe und Gelassenheit. Es war später Nachmittag und auf dem gegenüberliegenden Feld zog Nebel auf. Oma und Großtante saßen auf einer Bank vor dem Haus und ich zwischen ihnen. Sie sprachen plattdeutsch und ich verstand kein Wort, fühlte aber: hier bin ich genau richtig; schnappte das Wort „Biesekater“ auf und machte mir meine eigenen Gedanken. Tempi passati – oder doch nicht ganz. Erinnerung bleibt!
Im Duden ist vermerkt, dass das Wort überzwerch in Süddeutschland beheimatet sei und unter anderem »quer« oder »verschroben« bedeute. Ich habe es in meiner Kindheit von beiden Eltern ab und zu gehört. Von der Mutter eher bei praktischen Problemen: »Das passt so nicht, wir müssen es überzwerch nehmen.« Der Vater verwendete das Wort gern zur Charakterisierung von Meinungen und Zeitgenossen, die, wie das Zwerchfell im Körper, quer lagen. Ich möchte nicht, dass der Ausdruck ganz aus dem Sprachgebrauch verschwindet, zumal er sich oft auch zur Kritik an Leserbriefen und manchen Zeitungsbeiträgen so gut eignet.
Meinen Wort-Schatz habe ich dank unserer Milchkontrolleurin wiederentdeckt. Sie kommt einmal im Monat, um für den Zuchtverband die Leistung unserer Kühe festzustellen. Unsere Unterhaltung beim Krach des Melkmaschinenmotors drehte sich um die Kartoffelernte und die Zahl der eingekochten Gläser Marmelade. Deshalb bemerkten wir nicht, dass unsere Katzen auf die Ablage mit den Milchproben sprangen und dabei beinahe den Computer zur Eingabe der Milchmengen und Probennummern hinuntergestoßen hätten. Da sagte die Milchkontrolleurin: »Die Versicherung hätte bestimmt angenommen, wir wollten sie behumsen, wenn wir die Geschichte so gemeldet hätten.« Das Wort ist ein verniedlichender Ausdruck für einen versuchten Betrug, von früher kenne ich es aber auch im milderen Sinne von »mogeln« oder »flunkern«. Ob die Versicherung geantwortet hätte: »Sie wollen uns wohl behumsen«? Ich glaube nicht.
Unter meinen Lieblingsworten ist es für mich das poetischste: Der Sankt-Nimmerleins-Tag. Wie man früher bestimmte Termine am Heiligenkalender ausrichtete (an Mariä Lichtmess etwa wurden auf dem Land Verträge mit dem Gesinde abgeschlossen oder verlängert, auch gab es kleine Geschenke, so für die Bauernmagd etwa ein Paar wollene Strümpfe, die vermutlich entsetzlich kratzten), so gab es für Abmachungen oder Vorhaben, an deren Verwirklichung erhebliche Zweifel bestanden, den Ausdruck, »etwas auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben«. Eine harte, womöglich schmerzliche Erkenntnis wurde in das sanfte Gewand eines Heiligen gekleidet, den es gar nicht gab. Die alten Römer waren da pragmatischer: Etwas auf den Sankt- Nimmerleins-Tag zu verschieben hieß bei ihnen »ad kalendas graecas«, weil der griechische Kalender die »Kalenden«, den ersten Tag jedes Monats, nicht kannte. Dass die armen Griechen schon ab urbem condita einen schlechten Ruf haben, wäre nur eine von verschiedenen Interpretationen, die heutige Zeitläufte nahelegen könnten. Wie dem auch sei, poetischer ist der Sankt-Nimmerleins-Tag allemal. Dass man den im Heiligenkalender vergeblich sucht, teilt er heute mit so manchem Heiligen, der vormals dort seinen Platz hatte.
Erfrischungsraum. Mein Lieblingswort bezeichnet kein stilles Örtchen, sondern eine laute Lokalität der sechziger Jahre, wo schmatzende und schwatzende Menschen in Eile – man war ja beim Einkauf oder in der Mittagspause – Bratfisch, Bratwurst oder Boullion zusammen mit blassen Toast-Dreiecken vertilgten. In späteren Zeiten wurden die Erfrischungsräume von Selbstbedienungsrestaurants und Schnellimbissen abgelöst. Auf mich als dreizehnjährige Fahrschülerin übte der Erfrischungsraum im Untergeschoss bei Karstadt auf dem Westenhellweg in Dortmund eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Hier begann meine lebenslange Amour fou zu »Pommes mit« (damals Mayo, heute lieber Ketchup), hier blieb zwischen Unterrichtsschluss und dem nächsten Zug nach Hause so mancher Groschen meines knapp bemessenen Taschengeldes. Und was nicht im Erfrischungsraum umgesetzt wurde, landete in der ebenfalls erinnerungsträchtigen Milchbar…
Mein Lieblingswort ist Habgier. Aus ihm spricht so richtig die Gier nach der Habe des Nächsten. An mich reißen, wofür ich nicht arbeiten und mich nicht anstrengen muss. Vor lauter Habgier nicht beachten das christliche Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh, Haus, noch alles, was dein Nächster hat.