Im Briefkasten liegt ein grüner Umschlag. Neugierig öffne ich ihn. Von einem Foto strahlen mich sechs junge Menschen an. Der Inhalt eines langen Schreibens, kurz zusammengefasst: »Wir haben gerade Abitur gemacht. Diese Aufnahme entstand vor unserem Abi-Ball. Wir wollen uns für die vier schönen Grundschuljahre mit Ihnen bedanken, die den Grundstein zu diesem Ergebnis gelegt haben.« Mir wird ganz warm ums Herz. Danke, Benedikt, Janne, Julian, Letizia, Mona und Verena! Alles Gute für Euren Weg, Ihr werdet ihn meistern!
Adagio. Im Geiste zähle ich mit. Erster Blickkontakt mit dem Dirigenten, noch ein paar Takte Pause, das Orchester wird leiser. Zweiter Blickkontakt mit dem Dirigenten, mein Einsatz! Ich flute den Saal mit majestätischen Paukenklängen.
Mit meinem Sohn Henrik den Windsorknoten üben, damit er im Zahnmedizinerexamen mit einer klassisch gebundenen Krawatte die Etikette erfüllt. Dieses Wissen stand nicht auf dem Lehrplan.
Siebzig werden. Noch einmal in die Toskana reisen. Das Haus nahe Arezzo wieder bewohnen. Noch einmal mit den Eidechsen leben. Piero della Francesca besuchen. Und die schwangere Madonna in Sansepolcro. »Salve« auf dem Pflaster lesen.
Donnerstag: Hitze … Kernspin … Aufatmen. Zu Hause: Kaffee und die ZEIT. Auf der letzten Seite fällt mir der barfüßige Schneckensammler aus Österreich auf. Wie poetisch der Satz: »Dabei bin ich barfuß, um die Erdung nicht zu verlieren.« Erinnerungen tauchen auf: Ich war damals fünfzehn und verbrachte mit meinen Eltern und meiner Freundin die Sommerferien in Grins. Dort habe ich meinen ersten Kuss von dem barfüßigen Schneckensammler erhalten. Das war vor vierzig Jahren. Ich fühle mich beflügelt und laufe barfuß durch meinen Garten, um mich zu erden!
Berlin-Karlshorst, es regnet. Der Bus der Linie 296 ist gerade abgefahren. Eine ältere Frau kommt angelaufen. Der Bus hält noch einmal, die Frau steigt ein und bedankt sich beim Fahrer. Darauf dieser: »Sie haben aber auch Glück, dass Sie an mich geraten sind. Ich bin ja so etwas wie die Mutter Teresa des Ostens.«
Videotelefonieren übers Internet: Einmal die Woche extra früh aufstehen, damit ich mit meinem Liebsten in San Francisco sprechen kann. Und ihn sehen. Das macht die Sehnsucht nicht kleiner, aber leichter.
Ein Foto aus dem Zeitsprung einer alten ZEIT-Ausgabe auszuschneiden und es als kreative Aufgabe in das Heft meines argentinischen Nachhilfeschülers zu kleben. Es zeigt eine Mutter am Meer mit Baby im Arm. Mit Krakelschrift schreibt Ramiro darunter: »Mi mamá me ama!« – meine Mutter liebt mich. Ein Lichtblick in einem Elendsviertel voller zerworfener Familien und Gewalt.
Jeden Morgen um sechs gehe ich in meinen Garten hier in Tirol und sammle einen Teil meiner Schnecken ein, damit sie nicht überhand nehmen. Dabei bin ich barfuß, damit ich die Erdung nicht verliere. Ich höre, wie unser Dorf erwacht und den Tag einziehen lässt. So funktioniert hier das Zusammenspiel von Mensch und Tier.
Einen Teil der Sommerferien verbringt mein Sohn bei seinen Großeltern in Bayern. Bei einem Anruf erfahre ich von der Oma, dass sie ihm gerade Rommé beibringt und dass sie viel Spaß dabei haben. »Jetzt leg endlich auf, ich will weiterspielen! « ertönt da die Stimme des 10-Jährigen aus dem Hintergrund. Wir beenden das Gespräch. Ich will ja nicht stören. Was mein Leben zurzeit etwas ärmer macht, bereichert das der Oma.